Vor 85 Jahren: Lebensborn-Heim Wienerwald

Die Teilnehmer:innen am Podiumsgespräch in St. Pölten. Von links nach rechts: Valentin Erben (Wien), Helga S. (Wien), Barbara Stelzl-Marx (BIK, Moderation), Karin Termes (Den Haag) und Klaus Steiner (Wien). Foto: Hans Bogenreiter

Im Herbst 2017 besuchte Hans Bogenreiter mit seinem Sohn, der einen Hinweis auf einen Lost Place bekommen hatte, das verfallene Sanatorium Wienerwald in Feichtenbach bei Pernitz. Über diesen Ausflug schrieb er einen Artikel für den Augustin (Nr. 455/März 2018) und erwähnte darin, dass das Sanatorium in der NS-Zeit ein Entbindungsheim des Lebensborn war. Im folgenden Beitrag blickt Hans Bogenreiter – gemeinsam mit Lukas Schretter – auf die Geschichte des Lebensborn-Heimes und auf eine Veranstaltung des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung (BIK) und des Hauses der Geschichte Niederösterreich zurück.

Neue Forschungen zur Geschichte des Lebensborn-Heimes

(hb) Über 1200 Kinder wurden im Heim Wienerwald zwischen Oktober 1938 und März 1945 geboren. Heinrich Himmler, Reichsführer der SS, sah den Lebensborn als bevölkerungspolitische Maßnahme zur Förderung von „rassisch“ wertvollen Kindern. Er sollte unverheirateten Müttern die Möglichkeit geben, bei Bedarf geheim zu entbinden, und so illegalen Schwangerschaftsabbrüchen vorbeugen. Auch Ehefrauen und Bräute der SS und der Deutschen Polizei hatten die Möglichkeit, in einem Lebensborn-Heim zu entbinden. Die Auswahlkriterien für die werdenden Mütter waren streng. Auch nach der Geburt der Kinder kontrollierte der Lebensborn deren „rein-arische“ Entwicklung.

Nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die jüngste Vergangenheit wurde ein Mantel des Schweigens über das Heim Wienerwald gebreitet. Das BIK nahm deshalb vor knapp drei Jahren umfangreiche Forschungen, unter anderem ein Interviewprojekt, in Angriff. Etwa dreißig im Heim geborene Personen erklärten sich für Interviews bereit. Die BIK-Forscher:innen berichten, dass sich die Lebensborn-Kinder natürlich nicht an das Heim erinnern können. Die Geburt in einem Lebensborn-Heim habe aber Einfluss auf ihre Biografien genommen. In den Interviews erfuhren die Forscher:innen vor allem, wie in den Familien nach 1945 über das Lebensborn-Heim und über den Nationalsozialismus gesprochen wurde.

Ehemalige Lebensborn-Kinder brechen das Schweigen

(hb) Am 20. September 2022 nahm ich am Podiumsgespräch und der Diskussion zum Lebensborn-Heim „Wienerwald“ im Haus der Geschichte Niederösterreich in St. Pölten teil. Vier Lebensborn-Kinder, zwischen 77 und 85 Jahre alt, sprachen über die Bedeutung des Heimes in ihrer Familiengeschichte und über die Auseinandersetzung mit diesem Aspekt der eigenen Biografie. Unisono meinten Valentin Erben, Klaus Steiner, Helga S. und Karin Termes, dass die Geheimniskrämerei über ihren Geburtsort ihre Kindheit und Jugend belastete. Die Ungewissheit sei schlimmer gewesen als die spätere Gewissheit.

Klaus Steiners Vater war Mitglied der Waffen-SS, seine Mutter Sekretärin bei der Gauleitung in Wien. Nach dem Krieg und der Scheidung seiner Eltern wuchs Klaus Steiner in Hallstatt auf. Er berichtete, während seiner Schulzeit und im Architekturstudium immer wieder mit ehemaligen Nationalsozialist:innen konfrontiert gewesen zu sein. Über die NS-Vergangenheit seiner Eltern oder seine Geburt im Lebensborn-Heim hätte aber niemand mit ihm gesprochen.

Eher „zufällig“, so Valentin Erben, als Cellist des Alban Berg Quartetts in der Musikwelt bekannt, sei er im Heim Wienerwald im März 1945 als eines der letzten dort geborenen Kinder zur Welt gekommen. Seine Mutter wohnte damals in der Nähe. Er berichtete ebenfalls, dass das in seiner Familie Unausgesprochene über die NS-Zeit für ihn lange furchtbar gewesen sei.

Karin Termes hingegen wurde in der Nachkriegszeit von Kindern aus der Nachbarschaft darauf aufmerksam gemacht, dass sie ein Adoptivkind sei. Das Gefühl, dass „etwas nicht stimmt“, ließ sich nicht verdrängen. In ihrer Jugend konnte sie in Erfahrung bringen, dass ihre unverheiratete „Geburtsmutter“, wie sie ihre leibliche Mutter nennt, das Angebot einer anonymen Entbindung im Lebensborn-Heim Wienerwald und der Adoptionsvermittlung durch den Lebensborn in Anspruch genommen hatte. Karin Termes lernte ihre „Geburtsmutter“ kennen und versucht heute, Informationen über ihren leiblichen Vater einzuholen.

Anders verlief die Familiengeschichte von Helga S. Ihre Mutter verliebte sich mit 18 Jahren in ihren Vorgesetzten, einen Hauptmann der Schutzpolizei, der in Deutschland schon eine Familie hatte. Solche außerehelichen Liebschaften wurden, sofern das „arische“ Erbe stimmte, nicht nur toleriert, sondern mitunter sogar gefördert. Der Vater von Helga S. fiel 1943, im Geburtsjahr seiner Tochter, im Gebiet der heutigen Ukraine. Obwohl der Vater bereits verheiratet war, ging die Mutter mit dem Gefallenen eine „Kriegsehe“ ein. Bei der im Volksmund so genannten Leichentrauung symbolisierte ein Helm den Bräutigam.

Die Mutter von Helga S. erhielt nach der Entbindung eine Anstellung im Heim Wienerwald und wurde gegen Ende des Krieges, gemeinsam mit ihrem Kind, nach Steinhöring – Oberbayern „evakuiert“, wo sich die Zentrale des Lebensborn befand. In ihrer Kindheit, so Helga S., habe sie durch ihre Mutter „Zuckerbrot und Peitsche“ erfahren. Die Mutter habe geglaubt, als alleinerziehende Mutter in besonderer Weise beweisen zu müssen, das Kind erziehen zu können. Im fortgeschrittenen Erwachsenenalter begann sich Helga S. für ihre Familie väterlicherseits zu interessieren. Es gelang ihr, ihre Halbbrüder in Deutschland ausfindig zu machen.

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Postkarte des Lebensborn-Heimes Wienerwald, 1943. Quelle: Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung

Bei der Veranstaltung in St. Pölten waren auch andere Lebensborn-Kinder anwesend. So berichtete ein Veranstaltungsteilnehmer nach der Podiumsdiskussion, dass er nach seiner Geburt im SS-Heim 18 Jahre lang in verschiedenen Heimen aufgewachsen sei. Eindrucksvoll waren für mich auch die Schilderungen über die „Namensweihe“ im Heim als Ersatz für die christliche Taufe. Dabei wurden die Babys mit einem SS-Dolch über dem Kopf auf die Ideale der NS-Ideologie eingeschworen.

Unterschiedliche Perspektiven und offene Fragen

(ls) Die Wortmeldungen von Podium und Publikum veranschaulichten, wie vielfältig die biografischen Verbindungen zum Lebensborn-Heim Wienerwald sind und wie unterschiedlich diese wahrgenommen und beurteilt werden. So setzen sich in manchen Familien nicht die Lebensborn-Kinder, sondern die nachfolgenden Generationen kritisch mit der Familiengeschichte auseinander. Ein Besucher aus Leipzig berichtete, sein Vater wisse nicht, ob er im Lebensborn-Heim Wienerwald zur Welt gekommen sei, doch sprächen einige Anzeichen dafür. Er nutzte die Veranstaltung, die Familienrecherchen voranzutreiben.

In manchen Fällen ist die Geburtsurkunde der einzige Beleg für eine Geburt im Heim Wienerwald. Als Geburtsort ist darin das „SS-Mütterheim mit diesen zwei Runen“ verzeichnet, wie es einer der Veranstaltungsteilnehmer bezeichnete.

Die Geburtsurkunden der Lebensborn-Kinder wurden nicht vom Standesbeamten in den Wohnorten der Mütter, sondern im Heim Wienerwald vom Heimleiter ausgestellt. Um die Geheimhaltung nichtehelicher Geburten zu gewährleisten, hatte der Lebensborn in seinen Entbindungsheimen eigene Standesämter eingerichtet. Außerdem umgingen eigene polizeiliche Meldestellen des Lebensborn in Berlin, München und Wien die polizeiliche Meldepflicht. Sie erschienen dem Lebensborn so lange nötig, bis „im ganzen Volk die bevölkerungspolitisch unerlässlich notwendige Auffassung Platz gegriffen hat, daß an unehelichen Geburten kein Makel haftet.“ In Ausnahmefällen gab es „Heimaufnahmen auf Einladung des Reichsführer SS“, wenn dieser es als notwendig erachtete, den Frauen für die Schwangerschaft und das Wochenbett eine gänzlich neue Identität zu verschaffen. Die Geheimhaltung war aber nicht obligatorisch, sondern erfolgte nur auf Wunsch der Mutter oder des Vaters und wurde mit der Heimaufnahme beantragt.

Der Lebensborn verfolgte nicht vorrangig das Ziel, generell unverheirateten schwangeren Frauen Beistand zu leisten. Nur jene verheirateten und unverheirateten Frauen, die „in rassischer und erbbiologischer Hinsicht“ den Anforderungen entsprachen, wurden in ein Lebensborn-Entbindungsheim aufgenommen. Der Lebensborn war also, wie bereits der Historiker Georg Lilienthal in den 1980er Jahren und die Autorin Dorothee Schmitz-Köster in den Folgejahren darlegten, keine NS-Wohlfahrtseinrichtung für werdende Mütter, sondern ein Instrument nationalsozialistischer Rassenpolitik.

„Es ist wichtig, zu wissen, wo die Dinge herkommen – auch wenn sie aus der rechten Ecke kommen“ – Publizierte Erinnerungen zu Lebensborn

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Beim Besuch des Sanatoriums Feichtenbach inklusive Nebenanlagen im Jahre 2017 wurde offenkundig, dass es keine Hinweise auf die Nutzung als Lebensbornheim mehr gibt. Fotos: Dario und Hans Bogenreiter

(hb) Eine umfassende Analyse der Interviews mit Lebensborn-Kindern des Heimes Wienerwald steht noch aus. Wie unterschiedlich der Umgang mit dem Geburtsort ist, zeigen aber nicht nur die Berichte von Valentin Erben, Klaus Steiner, Karin Termes und Helga S., sondern auch bereits publizierte Erinnerungen.

Brigitta Ramböck beschreibt in dem von Gisela Heidenreich herausgegebenen Band „Born of War“ (2016) eindrucksvoll, wie sehr sie unter dem lange geheim gehaltenen Ort ihrer ersten Lebensjahre litt. Ihre Mutter hatte noch Jahre nach der Geburt des Kindes versucht, ihre uneheliche Tochter zu verleugnen und diese als ihre Nichte ausgegeben:
„Ich war ein Schubladenkind. Abschiebbar in geheime Dunkelzonen, wenn es nötig schien. Wäre es nach meiner Mutter gegangen, wäre ich weitgehend dort verblieben, um ab und zu herausgeholt zu werden, einerseits zum privaten Herzen und Küssen, andererseits in Momenten, in denen die Mutter der Selbstbestätigung durch dieses Kind bedurfte, mit dem sich in mancher Hinsicht durchaus Staat machen ließ. Nur eben grundsätzlich nicht: Im Prinzip hatte es nicht vorhanden zu sein. Es war ein uneheliches Kind. Die erste Schublade war ein Erholungsheim der NSDAP gewesen, in dem die werdende Mutter, weitab von der Heimatstadt, vorübergehend arbeitete, um den sich rundenden Bauch vor den Augen der Familie zu verbergen, namentlich vor denen ihres »guten alten« Vaters, dem sie eine solche Schande nicht antun durfte. So geschützt, konnte sie sogar vorfreudig mit dem Ungeborenen sprechen, wobei sie sich freilich in der Anrede irrte: Wuchs in ihr doch nicht der erwartete Sohn, sondern ein Mädchen, was sie auch gleich bei der Geburt in Verlegenheit setzte: Für diesen Fall war kein Name parat. Bert hätte der Sohn heißen sollen, Bert, wie der Vater.“

Astrid Eggers, die im Februar 1943 als nichteheliches Kind im Heim Wienerwald geboren wurde, berichtet: „Das habe ich erst 1974 im Alter von 31 Jahren erfahren. Wo ich meine ersten Lebensjahre verbracht habe, weiß ich nur bruchstückhaft.“ Bis ins Erwachsenenalter lebte Astrid Eggers im Glauben, im Lodz geboren zu sein, wo ihre Mutter für die Gestapo gearbeitet hatte. In einem Text für den Band „Lebensborn-Kinder erzählen ihr Leben“ zeichnet sie die Versuche nach, mehr über ihre Familiengeschichte und ihre früheste Kindheit herauszufinden. Der Band wurde vom Verein „Lebensspuren“ herausgegeben, einer Interessensgemeinschaft von Menschen, die in Lebensborn-Heimen geboren oder vom Lebensborn „germanisiert“ wurden. Der Verein unterstützt sie und ihre Familien bei der Aufarbeitung ihrer Lebens- und Familiengeschichten.

Klaus Steiner, der bei der Veranstaltung in St. Pölten am Podium saß, meinte in einem bereits publizierten Interview mit dem Architektur Zentrum Wien: „Es ist wichtig, zu wissen, wo die Dinge herkommen – auch wenn sie aus der rechten Ecke kommen.“ Er begann in den 1970er Jahren, neben seiner beruflichen Tätigkeit für die Stadtplanung Wien und nicht zuletzt aufgrund seiner Familiengeschichte, das NS-Baugeschehen in Wien zu recherchieren. Vor wenigen Jahren übergab er die von ihm gesammelten Unterlagen dem Architektur Zentrum Wien. Diese Planungsunterlagen bildeten im Jahr 2015 den Grundstein für die Ausstellung „Wien. Die Perle des Reiches. Planen für Hitler“.

Begleitprogramm und Erinnerungswerkstatt

(ls) Einige Lebensborn-Kinder des Heimes Wienerwald äußerten im Rahmen ihrer Interviews das Interesse, mehr über die rasseideologischen Hintergründe des Lebensborn zu erfahren, sich mit anderen auszutauschen und ihren Geburtsort zu besichtigen.

Deshalb organisierte das BIK nach Abschluss der Interviewphase zusätzlich zu der öffentlichen Abendveranstaltung mit Podiumsgespräch ein zweitägiges Rahmenprogramm. Dieses beinhaltete ein nicht öffentliches Austauschtreffen von Lebensborn-Kindern sowie die individuelle Einsichtnahme in personenbezogene Akten des ehemaligen Heimstandesamtes in der Gemeindeverwaltung von Pernitz, gemeinsam mit dem Standesbeamten. Mit Erlaubnis der heutigen Eigentümer war außerdem die Besichtigung der Außenbereiche des ehemaligen Heimes in Feichtenbach möglich.

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Im Heim Wienerwald zwischen 1938 und 1945 geborene Lebensborn-Kinder setzten sich im September 2023 kritisch mit ihrem Geburtsort auseinander. Foto: Nadjeschda Stoffers

Die Recherchen über und mit Lebensborn-Kindern endeten nicht mit der Veranstaltung in St. Pölten. Im Jahr 2023 startete das BIK eine Erinnerungswerkstatt, an der sich sowohl Forscher:innen als auch Personen beteiligten, deren Biografien und Familiengeschichten in unterschiedlicher Weise mit der Geschichte des Heimes Wienerwald in Verbindung stehen. Auch Personen aus dem räumlichen Umfeld des ehemaligen Heimes in Feichtenbach nehmen daran teil. Workshops dienen der Beschäftigung mit themenrelevanten historischen und biografischen Quellen und der Vermittlung geschichtswissenschaftlicher Methoden. Die Erinnerungswerkstatt, angesiedelt an der Schnittstelle von Wissenschaft und Zivilgesellschaft, zeigt das Potential, das sich hinter der beständigen Verknüpfung der „eigenen“ mit der „großen“ Geschichte verbirgt. Sie möchte beispielgebend dafür sein, wie Formen öffentlicher und persönlich-familiärer Erinnerung als historische Quellen und Lerngegenstände begriffen und erschlossen werden können.

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Postkarte des ÖGB-Urlauberheim Karl Maisel der Metall- und Bergarbeiter in Feichtenbach. Ab den 1950er Jahren wurde das Gebäude umfassend umgebaut und erweitert. Quelle: Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung

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Autoren:

Hans Bogenreiter (hb) erlernte den Beruf des Buchdruckers und maturierte danach am Abendgymnasium für Berufstätige in Wien. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften arbeitete er über 25 Jahre bei der Menschenrechtsorganisation Gesellschaft für bedrohte Völker. Seit 2016 schreibt er regelmäßig in der Zeitschrift „Augustin“ zu unterschiedlichen Themen.

Lukas Schretter (ls) leitete das Interviewprojekt und die Erinnerungswerkstatt zur Geschichte des Lebensborn-Heimes Wienerwald. In Zusammenarbeit mit den Projektmitarbeiter:innen und dem Haus der Geschichte Niederösterreich organisierte er das Podiumsgespräch in St. Pölten. Er ist Research Group Leader der BIK-Programmlinie „Kindheit“.

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