Der Schwarzblaue Ölkäfer: Insekt des Jahres 2020

Tödliches Gift, blutende Beine, „Home Invasion“ und schwerer Raub mit Todesfolge. Was sich nach den Puzzlesteinen eines Thrillers anhört, umschreibt die Lebensweise eines besonderen Käfers. Nicht allein deshalb wurde er zum Insekt des Jahres 2020 gekürt: der Schwarzblauen Ölkäfer (Meloe proscarabaeus)

 

Blutende Beine und giftige Hochzeitsgaben

Ölkäfer zeigen gegenüber Angreifern eine unerwartete Reaktion. Bei Störung können sie „auf Kommando“ aus den Beinen bluten. Mit den namensgebenden, öligen Tropfen aus den Beingelenken fährt die Giftküche der Natur schwere Geschütze auf. Das in den Tropfen enthaltene Cantharidin kann schon in geringen Mengen bei einem Menschen verheerende Wirkung haben. Bereits 0,03 g gilt für einen Menschen als tödliche Dosis.

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Männlicher Ölkäfer am Waldboden (NP-Donau-Auen, Orth an der Donau), Foto: Norbert Ruckenbauer
Für Schwarzblaue Ölkäferweibchen ist Cantharidin allerdings Grundvoraussetzung näherer Bekanntschaft. Mit ihren Antennen prüft sie zunächst den aus den zahlreichen Poren der männlichen Antennen strömenden Geruch. Nur Männchen mit einem vielversprechend hohen Cantharidingehalt werden zur Paarung überhaupt zugelassen.

In den bis zu 13 Stunden, die das Paar zusammenhängt, zieht das größere Weibchen, das ziemlich passive Männchen hinterher und lässt sich bei ihren Aktivitäten wie Nahrungssuche und Fressen wenig stören. Das mit dem Sperma auf das Weibchen übertragene Cantharidin gibt sie an ihre Eier weiter. Cantharidinhaltige Eier werden von Ameisen und Marienkäfern viel seltener gefressen und sind auch vor Pilzbefall gut geschützt.

 

Rosskur bei Trapphähnen

Auf andere Weise erhöhen auch andere Männchen ihren Paarungserfolg mittels Cantharidin. Bei der Balz der Großtrappen finden sich die Hähne auf einer zentralen Arena ein, um sich von ihrer besten Seite zu präsentieren. Das aus gutem Grund. Die Wahl, mit wem sie sich verpaaren, treffen allein die äußerst wählerischen Weibchen.

Tritt ein Hahn mit einer verschmutzten Hinterseite auf, weil er an Darmparasiten oder Krankheitserregern leidet, sinken seine Chancen rapide. Männchen wissen das und fressen deshalb vor der Balz Ölkäfer. Nur wenn sie mit Cantharidin störende Darmbewohner „aus dem Rennen werfen“, bleiben sie selbst im Rennen drinnen. Und können mit einer sauberen, weißen Enddarmregion auf Fortpflanzungserfolg hoffen.

Keine Wildbienen, keine Ölkäfer

Die aus den cantharidinhaltigen Eiern schlüpfenden Ölkäferlarven sind „Einschleichdiebe“, die in die Kinderzimmer ihrer Opfer gelangen wollen. Sie klettern in Blüten und warten dort auf Blütenbesucher. Ihre Beine sind als „Dreiklauer“ für präzises Festhalten an einem Opfer konzipiert. Das hilft allerdings recht wenig, wenn man sich beim Falschen festhält. An einem Fliegenbein oder Schmetterlingshinterleib verankert, ist ihre Lebensreise rasch zu Ende. Nur wenn sie „Glück“ oder das richtige Gespür haben und eine Seidenbiene oder eine Sandbiene erwischen, geht die Entwicklung weiter.

Im Nest der Wildbiene beginnt das Luxusleben der Ölkäferlarve und der Horror der Bienenmutter. Bienennachwuchs wird aus diesem Nest sehr wahrscheinlich keiner mehr hervorgehen. Die letzte Hürde ist, in der Honigzelle auf das dort schwimmende Ei zu gelangen. Fällt die Ölkäferlarve beim Absteigen von der Biene in den Honig, ist es um sie geschehen. Beim geglückten Wechsel frisst die eindringende Larve zunächst das Bienenei, um sich nach mehreren Häutungen und der Plünderung einiger Brutzellen schließlich zu einer beinlosen, überwinternden Scheinpuppe zu häuten.

Eizahl kompensiert „Fehlflüge“

Viele Larven, die den „falschen Flieger“ besteigen, werden sich nie zu einem Käfer entwickeln. Um diese Verluste auszugleichen, muss das Ölkäferweibchen wahre Höchstleistungen vollbringen. Unter Laborbedingungen legen sie im Abstand von 5 – 11 Tagen bis zu sechsmal Eier ab. Ein solches Gelege kann zwischen 3000 und 10.000 Eier umfassen, in einer Reproduktionsperiode legt sie insgesamt bis zu 40.000 Eier! Dabei investieren sie im Durchschnitt 40 % ihres Körpergewichts in die Eier. Der große, aufgeblähte Hinterleib der Ölkäferweibchen hat also einen guten Grund.

Viele Namen

Tiere, die zahlreiche verschiedene Namen haben, waren für die Menschen früherer Jahrhunderte von Bedeutung. Entweder waren sie einfach auffällig oder sie wurde in irgendeiner Weise verwendet. Bei Ölkäfern trifft beides zu.

Der Name „Maiwurm“ für den Schwarzblaue Ölkäfer deutet auf die Gestalt und Aktivitätszeit hin, andere Bezeichnungen wie „Ölkäfer“, „Schmalzkäfer“ oder „Pissekäfer“ aber durchaus auf die medizinische Verwendung.

Blasenpflaster & Liebestränke

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Weiblicher Ölkäfer lässt sich auch vom Regen nicht beim Fressen stören (NP-Donau-Auen, Orth an der Donau), Foto: Norbert Ruckenbauer
Aus heutiger Sicht stellt sich der vielfältige Einsatz von Ölkäfern in der Heilkunde als höchst gefährlich und lebensgefährdend dar. Sie wurden für Blasenpflaster eingesetzt, deren Salbengrundlage Schmalz war oder wegen ihrer harntreibenden Wirkung in Tränken und Gebräuen.

Die Reizung der Harnröhre trug dem Cantharidin der Ölkäfer seit der Antike auch den Ruf der stimulierenden und erregenden Wirkung ein. Im Frankreich des 18. Jahrhunderts wurden von vornehmen Kreisen Liebestränke und -pulver aus Ölkäfern verwendet, die unter den Namen „Pastilles galantes“ oder „Bonbons à la Marquise de Sade“ angepriesen wurden.

Noch heute kann man im Internet wenig überzeugende bis schwer bedenkliche Produkte dieser Richtung kaufen. Die drohenden Nebenwirkungen haben sich im Lauf der Jahrtausende nicht verändert: heftige Schmerzen bis zu Nierenblutungen und bleibender Impotenz.

Geköpfte Käfer „wider den wüthenden Hundsbiß

Das Prinzip der Heilkunde „Gleiches mit Gleichem“ („similia similibus") zu behandeln führte dazu, dass Ölkäfergift nicht nur als Mittel gegen Schlangenbisse oder Insektenstiche, sondern auch gegen die durch Tierbiss übertragene Tollwut einzusetzen.

Empfehlungen dazu finden sich in der mehrbändigen „Naturgeschichte“ des römische Gelehrten Plinius des Älteren (um 23-79 n. Chr.) genauso wie im rund 1000 Jahre später verfassten „Kanon der Medizin“ des persischen Arztes Avicenna (um 980-1037), der über Jahrhunderte die europäische Medizin mitprägte.

Noch 1777 kaufte der aufgeklärte preußische König Friedrich der Große (1712-1786) einem schlesischen Bauern um die ungeheure Summe von 10.000 Talern ein Geheimrezept gegen die Tollwut ab. Die Rezeptur der „Potio antilyssa“ ließ er durch das „Ober-Collegium Medicum“ veröffentlichen und ordnete an, das „Mittel wider den tollen oder wüthenden Hundsbiß“ in den Apotheken verfügbar zu halten. Laut Rezeptur sollten Ölkäfer über einem Honiggefäß geköpft und anschließend im Honig versenkt werden, um nichts von der öligen Flüssigkeit zu verlieren. Allerdings konnte auch die Süße des Honigs die schweren Nebenwirkungen wie heftige Schmerzen, Erbrechen und Durchfall nicht mildern. Der Stadtphysicus Christian S. Ungnad verteidigt 1783 das Mittel fast entschuldigend mit: „Zweifelhafte Hülfe ist besser, als gar keine“.

Alle oder keiner

Die Zusammenhänge zwischen Ölkäfern und Wildbienen stellt nur die „Spitze des Eisberges“ einer verflochtenen und auf Gedeih und Verderben engen Abhängigkeit der Arten unserer Landschaft dar. Als Mensch stehen wir hier nicht über den Dingen, sondern sind von dieser Verflechtung abhängiger als uns vielleicht bewusst ist. Der Schwarzblaue Ölkäfer sollte uns allein als Mosaikstein der niederösterreichischen Lebenswelt wichtig sein und nicht, weil wir ihn verwenden können. Beispielsweise als Medikament wie in früheren Jahrhunderten.

 

Text: Mag. Norbert Ruckenbauer, Kulturvermittler im Haus für Natur im Museum Niederösterreich sowie Wissenschaftlicher Mitarbeiter - Zentrum für Museale Sammlungswissenschaften

Literatur:

  • DATHE Holger H. (Hrsg.) (2003) Lehrbuch der Speziellen Zoologie. Begr. von Alfred Kaestner. Band I, 5. Teil: Insecta. pp. 512 – 513. Spektrum Akademischer Verlag: Heidelberg, Berlin.
  • KLAUSNITZER Bernhard (2002) Wunderwelt der Käfer. Giftkäfer: Seiten 84 – 88. Spektrum Akademischer Verlag: Heidelberg, Berlin.
  • LÜCKMANN J., KLAUSNITZER B. (2010) Die Verwendung der Ölkäfer in der Medizin vom Altertum bis in die Gegenwart. pp. 815–831. In: ASPÖCK Horst (Hrsg.) (2010) Krank durch Arthropoden. Denisia 30.
  • LÜCKMANN Johannes, NIEHUIS Manfred (2009) Die Ölkäfer in Rheinland-Pfalz und im Saarland. Gnor - Eigenverlag: Mainz.
  • WENLEDER Andreas (2014) Heimliche Gewinner der Tierwelt. Gift für die Liebe. http://www.sueddeutsche.de/wissen/heimliche-gewinner-der-tierwelt-gift-fuer-die-liebe-1.2188108.
  • WIESBAUER Heinz, ZETTEL Herbert (2011) Ölkäfer (Meloidae) pp. 172 - 176. In: WIESBAUER Heinz (Hrsg.), ZETTEL Herbert (Hrsg.), FISCHER Manfred A. (Hrsg.), MAIER Rudolf (Hrsg.) (2011) Der Bisamberg und die Alten Schanzen. Vielfalt am Rande der Großstadt Wien. Amt der NÖ Landesregierung, Abteilung Naturschutz: St.: Pölten.

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