„Verschwundenes Mostviertel“ – Buchbesprechung

Buchcover (Edition Winkler-Hermaden)

Nach dem „verschwundenen Waldviertel“ widmet sich das Team um Reinhard Linke nun dem Mostviertel.

Die Aufnahmen János Kalmárs vor menschenleerem Hintergrund sprechen auch in diesem Band die Sprache der Einsamkeit, der Versunkenheit, der Vergeblichkeit, dem Zahn der Zeit etwas entgegen setzen zu können, sie sind in ihrer Eindringlichkeit berührend, sie stiften an, „schade drum“ zu denken. Zu Reinhard Linke und Christoph Mayer gesellt sich als Autor der im Mostviertel aufgewachsene Historiker Ernst Bruckmüller, Verfasser von Standardwerken zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte.

Seit Jürgen Habermas´ Bestseller Anfang der 1960er Jahre, geistert der „Strukturwandel“ auch durch Niederösterreichs Hain und Flur. Es ist ein technologischer, ein ökonomischer und sozialer Wandel, der im Viertel ober dem Wienerwald zwischen Dirndl, Birne, Wein und Most blüht und gedeiht, es ist der Fortschritt. Vom Fortschrittsgefühl schreibt Robert Musil, es „erinnert aufs äußerste an einen Traum, wo man auf einem Pferd sitzt und nicht herunterkann, weil es keinen Augenblick stillsteht. Man möchte sich über den Fortschritt freuen, wenn er bloß ein Ende hätte. Man möchte gern einen Augenblick anhalten“, diesen Dichterwunsch löst das Buch ein, es hält einen Augenblick an und fest.

Mostviertel, S.21
S. 21 ehemalige Mostpresse, heute Hühnerstall

Das Mostviertel ist ein Viertel mit viel Landschaft und wenigen Städten, deren größte die Landeshauptstadt ist. Das reicht von den „fruchtbaren Ebenen des Tullnerfeldes“, über das Gebiet der Voralpen mit sanften Hügeln, breiten Tälern, geformt durch Enns, Ybbs, Erlauf, Traisen und dem hochalpinen Gebiet mit Ötscher, Dürrenstein, Hochkar und mittendrin Ostarrichi, der Flecken Land, dem Österreich seinen Namen verdankt. Der Vierkanter, „König der Bauernhöfe“, das agrarische Markenzeichen, ist hingegen ein Import aus dem Land ob der Enns im Zuge der Nachahmung. Was nicht mehr gebraucht wird, verfällt: „Kellerstöckel, Dürrhäuseln und Ausnahmehäuser“.

Mostviertel, S. 38
S. 38, Kienberg, alte Gießerei

Land der Hämmer, zukunftsreich?

Das Land der Hämmer ist hier angesiedelt, an der Eisenstraße. „Eigentlich gibt es die Eisenstraße nicht, sondern deren drei. Alle beginnen in Hieflau“, mehr sei hier aber nicht verraten. Was man unter „Provianteisen“ versteht, warum man davon „hammerterrisch“ werden kann, was ein „Widmungsgebiet“ ist und wie das alles mit Rothschild und Kupelwieser zusammenhängt, stellt Ernst Bruckmüller sachkundig dar. Die Besprechung soll schließlich Lektüre und Betrachtung des Buches nicht ersetzen.
Mit den Schwierigkeiten der Gastronomie zwischen Wirtshaussterben und Fachkräftemangel, über die Chancen des Traditionellen und des Digitalen setzt sich Christoph Mayer an einen Tisch.

Mostviertel, S. 54
S. 54, GH. Zum Roten Hahn, Hohenberg bei Lilienfeld

Pseudoanglizismen bezeichnen verflüchtigte Buchstaben als „Ghostletters“ und „Lost Places“ sind Gebäude, die keiner mehr braucht, um die sich niemand kümmert und die vor sich hin verrotten. Was ihnen bleibt, ist ihr morbider Charme, eine Ahnung, was einmal von Bedeutung war. Die Autoren verzichten auf diese modischen Sprach-Importe.

Den Themen „Was man täglich zum Leben braucht“, Post, Bahn, Bank, Kino, Kindergarten und Schule, Arbeit, Wohnen und Freizeit, „was das Mostviertel lebenswert macht“, hat sich Reinhard Linke angenommen. Beispielhaft möge ein Opfer des „Strukturwandels“, die Steyr und Puch Verkaufsstelle in Waidhofen an der Ybbs, sprechen.

Mostviertel, S. 71
S. 71, Hans Kröller, Steyr und Puch Verkaufsstelle Waidhoben an der Ybbs

Von der Mühle zur Fabrik

Wie überall in Europa etablierten sich an Flussläufen Mühlen. Sie blieben bis weit in die industrielle Phase Energiequelle. Im Mostviertel wurde „aus den zahlreichen Hämmern und Schmieden nur selten ein modernes Industrieunternehmen“, stellt Ernst Bruckmüller fest. Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel, so verweist er auf das Böhlerwerk bei Waidhofen an der Ybbs, die Purgstaller Messerfabrikanten Busatis, die Pfannenschmiede aus dem Ybbs- und Ybbsitztal, Riess KELOmat. Zu einem Weltkonzern entwickelte sich aus einer kleinen Zimmerei der Weltkonzern Umdasch (Doka) und beim Töpper Werk in Neubruck bei Scheibbs gelang die Umwandlung in eine Papierfabrik.

Mostviertel, S. 90
S. 90, Genossenschaftsmühle Herzogenburg

Am Abstellgleis

Einer Verlustgeschichte geht Christoph Mayer nach: den Schmalspurbahnen. Im Gespräch mit dem Fachmann für Eisenbahnfragen im Mostviertel, Herwig Lederer, werden wir Zeugen fast zu Herzen gehender Anekdoten, wie jener der letzten Fahrt der Bahn von Ruprechtshofen nach Wieselburg, deren letzte Passagiere zwei Schüler auf ihrem Weg zum Unterricht waren, den Bewohnern ist die Einstellung nicht nahegegangen, sie haben sie nicht einmal bemerkt.

Mostviertel, S. 113
S. 113, Abstellgleis am Bahnhof Kienberg

Das letzte Kapitel widmet Reinhard Linke der Landeshauptstadt – die „bis heute unterschätzte Stadt“ – und deren rasanter Entwicklung seit der Eröffnung der Westbahn und den damit verbundenen Fabrikgründungen. Zum Thema „Absichtlicher Leerstand, bewusste Verwahrlosung und Immobilienspekulationen“ lässt er den Stadtplaner Reinhard Seiß zu Wort kommen, der vor einigen Jahren im Stadtmuseum eine Ausstellung ausgerichtet hatte, die den St. Pöltnern eine neue Perspektive auf ihre Stadt zeigte.

Mostviertel, S. 128
S. 128, Eine der zahlreichen Villen, unbewohnt, dem Verfall preisgegeben

Wir freuen uns auf die noch ausständigen Viertel des Bundeslandes und besichtigen womöglich noch schnell das eine oder andere verschwindende Zeugnis einer vergangenen Zeit an Ort und Stelle. „Vieles schwindet dahin – und das wollten wir auch dokumentieren“, schreibt Ernst Bruckmüller in einem seiner Texte im Buch. Der „Körnerkasten“ auf Seite 22 ist nun tatsächlich nur mehr zwischen zwei Buchdeckeln existent. (Abriss Körnerkasten in St. Leonhard)

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Edition Winkler-Hermaden, ISBN 978-3-9504937-0-2, 22022, 140 Seiten, zahlreiche Abb., EUR 24,90
im gut sortierten Buchhandel oder beim Verlag: edition-wh.at

Fotos: János Kalmár
Rezensent: Gerhard Hintringer

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