© Claudia Rohrauer

Schreiben gegen das Vergessen

Schreiben gegen das Vergessen“ ist der Titel eines Projekts der Künstlerin Margarete Rabow, die mit der Unterstützung des Wiener Wiesenthal Instituts für Holocaust-Studien rund 800 Freiwillige animiert hat, die Namen der 66.000 ermordeten österreichischen Jüdinnen und Juden auf der Wiener Prater Hauptallee mit Kreide auf den Asphalt zu schreiben. Wind und Wetter haben diese Schrift wieder verblassen lassen. Davor wurden sie mit einer 16mm analogen Filmkamera aufgenommen. Das Haus der Geschichte im Museum Niederösterreich zeigt den 13minütigen Dokumentarfilm zum Projekt sowie jenes 50minütige filmische Dokument, in dem alle 66.000 Namen zu sehen sind, im Gedenken an die so genannten „Novemberpogrome“ von 13. bis 18. November 2018 laufend zu den Öffnungszeiten des Museums von 9.00 bis 17.00. Für den Museumsblog hat ein Teilnehmer des Projekts seine Erfahrungen beim „Schreiben gegen das Vergessen“ niedergeschrieben.

150 von 66.000: Schreiben gegen das Vergessen

Schreiben gegen Vergessen_flomJe älter die Kinder werden, desto schwieriger wird eine gemeinsame Gestaltung des Wochenendes. Die Kinder haben ihre eigenen Termine und sie finden es nicht immer cool, was Mama und Papa so machen. Als wir unsere Kinder fragten, ob wir gemeinsam an der Aktion „Schreiben gegen das Vergessen“ mitmachen sollten, kam sofort ein „Okay.“ Im Internet reservierten wir einen Time Slot. Sich vielleicht irgendwie darauf vorbereiten? Mit den Kindern drüber reden? In Wirklichkeit hat die Hektik des Alltags die Zeit bis zum Tag X im Flug vergehen lassen.

Das Wetter war uns gewogen an jenem Sonntag, dem 24. Juni 2018. Das war nicht während der gesamten Projektdauer so. So konnten nicht alle 66.000 Namen der ermordeten österreichischen Jüdinnen und Juden wie ursprünglich geplant mit Kreide auf die Prater Hauptallee geschrieben werden. Einige wurden auf Papier nachgeholt. Im Grünen Prater treffen wir die Künstlerin und Initiatorin Margarete Rabow und ihr Team. Jeder bekommt eine Schablone für den richtigen Abstand, eine Warnweste und zwei Knieschützer ausgehändigt, die sonst Fliesenleger verwenden. Auf der Schablone, einem stabilen Brett, ist eine alte Dixi-Schachtel befestigt – der Kreidenvorrat – und natürlich die Liste der Namen, die man schreiben wird. Nach einem kurzen Briefing geht es ans Werk. Wir haben uns für zwei Stunden angemeldet. Mal sehen, wie lange wir durchhalten.

Ich beginne am linken Fahrbahnrand. Wir alle haben Namen mit dem Buchstaben „G“ bekommen. „Friedrich Ginsberg, Itaig Ginsberg, Juer Ginzberg…“ Volle Konzentration auf die Form. Zu irgendetwas war es ja doch gut, dass ich in der HTL Normschrift gelernt habe. Das reglementierte Auftragen der Buchstaben gibt einem Orientierung auf dieser riesen Fläche. Und ich bin beeindruckt, wie schön und leserlich ich schreiben kann. Sonst würde man vermuten, ich bin von Beruf Arzt. Da ich am Rande der Fahrbahn schreibe, dauert es nicht lange, bis Passantinnen und Passanten stehenbleiben. Die allermeisten schauen nicht nur zu, sondern fragen: „Was macht ihr da?“ Die eine oder andere Antwort ist eine angenehme Abwechslung beim doch sehr anstrengenden Schreiben. Nicht alle können mit dem, was wir hier tun, etwas anfangen, aber alle zeigen Respekt für die Aktion. Menschen ohne Migrationshintergrund. Menschen mit Migrationshintergrund. Menschen aus muslimischen Kulturen. Menschen, die ihr Kreuz tragen. Menschen halt.

Schreiben gegen Vergessen-Kamera_ClaudiaRohrauer„Ernst Gittermann, Doris Gittermann, Rose Gittermann, Herisch Gittermann…“ Verstößt unsere Aktion eigentlich gegen die Datenschutzgrundverordnung? Ich schmunzle. Manche Nachnamen entsprechen den typischen jüdischen Klischees. Andere Vornamen habe ich noch nie gehört. Ihre Geschichten sind alle in der Datenbank des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstands nachzulesen. Es wäre interessant, die eine oder andere zu recherchieren. Der Asphalt ist rau, der Kreidenverbrauch ist enorm. Ich stehe kurz auf, um Nachschub zu holen und frage gleich die anderen, ob sie auch noch Kreiden benötigen. Ich knie mich wieder hin und schreibe weiter. Es ist keine angenehme Position. Der Großteil der Menschen schaut respektvoll auf mich herunter. Aber sie schauen herunter. Ganz anders war das bei den so genannten „Reibpartien“, wo Jüdinnen und Juden gezwungen wurden, den Gehsteig zu waschen. Schlimm genug der Mob, der sie dazu gezwungen hat. Noch schlimmer die zahlreichen Schaulustigen, mit Betonung auf lustig. Die wenigsten hatten wirklich verstanden, was hier gerade passiert.
„Wilhelm Glancz, Edith Glancz, Lilly Glancz, Malvine Glancz“ … ein argentinischer Vorname? „Na, was macht denn ihr hier? Strafkolonie?“ Soll es lustig sein? Ist es ein Verlegenheitsscherz, weil wir doch relativ irritierend-provokant am Boden knien? Der Sonntagsspaziergang nach der Kirche endet mit einer unerwarteten Begegnung. Er bekommt auf seine dummen Fragen kompetente und in ruhigem und nachdenklichem Ton vorgetragene Antworten, mit denen er nicht gerechnet hat. Der kecke Ton wird leiser, als der Passant erkennt, dass er die Schreibenden kennt. Er wird noch stiller, als plötzlich eine gesamte Abordnung seiner Pfarre samt Pfarrer eintrifft und sich Warnwesten, Knieschützer und Schablonen holt, um mitzuschreiben. Aber genau das ist es: Wenn man die Menschen kennt, über die man schimpft, hört man auf zu schimpfen. Ja, du bist eh nicht so, du bist ja ein guter, nur die anderen…

Schreiben gegen Vergessen-Schueler_ClaudiaRohrauer

„Adele Glas, Ernst Glas, Karoline Glas, Katharina Glas, Pauline Glas, Oskar Glas, Robert Glas, Rudolf Glas, Siegfried Glas, Zina Glas, Otto Glas, Jakobine Glas, Fritz Glas“ Eine große Familie? Oder ist es ein häufiger Name? Jedenfalls alle tot. Es wird laut. Ein Passant und eine Schreiberin sind in eine heftige Diskussion verwickelt, ich blicke auf. Den Provokateur noch mehr anstacheln? Ihn einfach reden lassen, bis er abzieht? So viele Menschen sind stehen geblieben, haben interessiert gefragt, auch wenn sie selbst keinen Bezug zum Thema haben und vermutlich nie mitgemacht hätten. Aber sie haben interessiert gefragt. Sie wollten ehrlich wissen, worum es hier geht. Und sie haben Respekt gezeigt. Meine Mitschreiberin hat sich nun in ein heftiges Wortgefecht verwickelt. Ich leiste ihr mit dem einen oder anderen Satz Schützenhilfe bis ein Mitarbeiter des Projekts die Situation erkennt und den stänkernden Passanten abdrängt. Es waren nicht viele, die laut waren, aber sie hatten die Aufmerksamkeit.

Schreiben gegen Vergessen_Schueler_ClaudiaRohrauer„Agnes Glaser, Albert Glaser, Adele Glaser“. Eine orthodoxe jüdische Familie bleibt stehen. Schaut, sie sagen nichts, sie bleiben lange stehen und gehen dann weiter. Ob sie wissen, worum es geht? Was haben die Eltern ihren Kindern wohl schon über die Shoa erzählt? Haben sie etwas erzählt? Waren die Namen von Familienangehörigen dabei? Ein jüdisches Sprichwort sagt, ein Mensch ist erst tot, wenn sich niemand mehr an ihn erinnert. Diese Menschen haben alle nicht einmal einen Grabstein, an dem man ihrer gedenken kann. Schreiben gegen das Vergessen.
Zwei Stunden sind nicht ganz vorbei. Ich habe zwei Zeilen á 25 Namen geschrieben. Gemeinsam haben wir 150 Namen geschafft. Ich werde mir keine weiteren Namen holen. Ich bin durchaus erschöpft. Es war eine unmessbar wertvolle Erfahrung. Erinnerungskultur. Unglaublich. 150 von 66.000 Namen. Noch immer kann ich mir das Ausmaß des Wahnsinns nicht vorstellen.

Text: Mag. Florian Müller

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