Sport gegen Literatur – Tipp: x

Titelbild: Foto © Gerhard Hintringer

Wie passt das runde Leder ins eckige Buch? Was verbindet das Kaffeehaus mit dem Boxring? Sind Sport und Literatur verfeindete Brüder? Was sagt die schreibende Zunft?

Marcel Reich-Ranicki: „Sport und Literatur sind nahe Verwandte, die sich ähneln. Sie ähneln sich zu sehr, um sich aufrichtig lieben zu können. Es sind im Grunde feindliche Brüder. Beide appellieren auf verschiedenen Ebenen und mit unterschiedlichen Mitteln an dieselben Gefühle. Die fundamentalen Emotionen, mit denen sich Literatur befaßt – Heldentum, Leidenschaft, Solidarität, Ruhmsucht – dominieren auch in den Sportwettkämpfen …“ Interview FAZ, 30. Juni 2008, erstmals sprach er von „feindlichen Brüdern“ 1963 in „Die Zeit“.

Bertolt Brecht: „Der Zweck des Sports ist natürlich nicht körperliche Ertüchtigung, sondern der Zweck körperlicher Ertüchtigung kann Sport sein.“ (Brecht, Schriften zur Politik und Gesellschaft 1919-1956)
„Boxen zu dem Zweck, den Stuhlgang zu heben, ist kein Sport.“

Peter Handke: Die Welt im Fußball – In: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1965):
„Wir kennen die stereotypen Schlußsätze zu den Prognosen vor einem Fußballspiel: es sei zwar nach menschlicher Voraussicht dieser oder jener Ausgang zu erwarten, aber: man könne nie wissen, im Fußball sei alles möglich, denn das Leder sei rund. Wie alles was rund ist, ist auch der Fußball ein Sinnbild für das Ungewisse …“

Georg Kreisler: Sport ist gesund (1960)

Gerhard Bronner / Peter Wehle: Der Sportler (1958)

Vereinssport und Verstandesschärfe

Evas Menasse, Roberts Schwester, setzt ihrem Vater mit dem Familienroman „Vienna“ (2005) ein Denkmal. Auf der Position des Rechtsaußen wird Hans Menasse (*1930) mit der Vienna 1955 Meister. Angesichts der Fernsehinterviews mit Fußballern lässt sie ihn räsonieren, was es zu „seiner Zeit“ nicht gegeben hat:
„Das hat´s nicht geben, daß aner kaum lesen und schreiben g´lernt hat, nur weil er ein Fußballtalent war … Zu meiner Zeit haben in der Nationalelf a paar Doktoren g´spielt …“

Alois Brandstetter bedient das Klischee vom dummen Spitzensportler, einem Ruf der dem Sportler von Intellektuellen, „sehr unsportlichen Existenzen“, angehängt worden sei.
„Siegfried, seine Angehörigen und Reporter nennen ihn später Sigi, auch noch als alten Mann. Sigi ist Gastwirtssohn und Tiroler, er hat sieben Geschwister und einen elendslangen Schulweg.“ Den legt er naturgemäß auf Schiern zurück. „Sigi ist auf dem Schulweg besser als in der Schule … er fährt von Jahr zu Jahr schneller zur Schule … Am Schluß, erinnert sich später einmal sein Lehrer, raste Sigi praktisch nur noch zum Sitzenbleiben zur Schule.“
„Der Präsident der Republik forderte vor allem die studierende Jugend des Landes auf, sich am Sportler des Jahres und Olympiasieger Siegfried ein Beispiel zu nehmen.“
(Der Spitzensportler, In: Der Leumund des Löwen. Geschichten von großen Tieren und Menschen (1976))

Was Elias Canetti vom Hören kannte, vom Rapid-Platz herüber, fördert die Arbeit an seinem Großessay „Masse und Macht“.
Siehe Blog-Beitrag „Fußball und Poesie

Elfriede Jelinek, Ein Sportstück (UA 1998, Burgtheater) ist die Auseinandersetzung mit Canettis „Masse und Macht“.
Der Sport ist eine Form des Krieges, ein Massenphänomen, die Figuren sind teils reale Sportlergestalten: Bodybuilder Andreas Münzer (Andi) ist tatsächlich an Anabolikaübergenuss gestorben, Jelineks Alter Ego tritt in der Figur der monologisierenden Elfi Elektra auf, der Chor in Sportkleidung. Die Klangkulisse wie von der Westtribüne als Bewahrerin der Tradition des Chors in der griechischen Tragödie.

Das Theater Arche in der Wiener Münzwardeingasse wurde 2019 mit dem Sportstück „Anstoß“ von Jakub Kavin, einer Textcollage aus Sportlerbiografien und -interviews, eröffnet.

Reinhard P. Gruber: Aus dem Leben Hödlmosers (1973) – Die steirische Fußballgeschichte:
„früher hat der hödlmoser oft gesagt: „der fußball ist ein dreck!“ als aber die jungen burschen des wsv fohnsdorf von einem siegesrausch in den anderen gefallen sind, ist es schließlich auch hödlmoser aufgefallen und er hat sich gedanken darüber gemacht.“

Heimito von Doderer: Die Dämonen (1956)
„In Wien ist dieser Sport des ´Stemmens` oder auch `Hochreißens` eine im Volk verwurzelte Sache, es gibt seit jeher in den Vorstädten viele solcher Vereine.“ [wie den Stemmklub ´Eisen´] „Kraft, Saft, Natur! – und nicht diese ganzen intellektuellen Sachen … was kommt bei diesem ganzen Intellektualismus heraus – Caféhaus.“
Doderer selbst war eine Zeitlang Mitglied im Boxklub „Austria“, begeisterter Bogenschütze und auch sonst, etwa auf zwei Brettln und mit dem Tennisracket, recht sportlich.

Boxer sind in der Weltliteratur gar nicht dünn gesät: Bert Brecht, Kurt Tucholsky, Ernest Hemingway, Heimito von Doderer, Norman Mailer (Der Kampf, 1976 – Schwergewichts-WM 1974, Muhammad Ali gegen George Foreman), Wolf Wondratschek (Im Dickicht der Fäuste, 2005).

Friedrich Torberg war einst aktiver Wasserballer bei der Hakoah, nachzulesen in: „Die Mannschaft. Roman eines Sportlebens“ (1935), er fuhr als Korrespondent des „Wiener Kurier“ zur Fußball-WM 1954 in die Schweiz, wo er auf den Bruder des Wunderteam-Managers (Hugo Meisel), Willy Meisel, traf, den er für den „bemerkenswerten Fall des Zusammenklangs von Sport und Intellekt“ beschreibt. Österreich siegte übrigens gegen den Gastgeber 7:5, ging gegen Deutschland 6:1 unter und wurde schließlich mit einem Sieg über Uruguay WM-Dritter.

Niederlagen gewinnen – Siege verlieren

Karl Kraus: „Österreich hat bei den olympischen Spielen in Stockholm eine große Niederlage gewonnen, und die Beteiligten sind stolz darauf.“  
Das war 1912, die Mannschaft jene Cisleithaniens.
„Die Österreicher wussten ganz genau, daß man in Stockholm auch auf das fesche Benehmen im Gasthaus Wert legen werde, und der Ehrenpräsident Otto Fürst zu Windisch-Graetz, hatte schon vorher geschrieben: ´Nicht alle können siegen, und im Wettkampf der Besten zu unterliegen, ist keine Schande´.“
Im Fußballturnier, das zum zweiten Mal olympisch war, schlägt Österreich – Deutschland 5:1 (0:1), holt Silber im Teambewerb Fechten (Säbel) und im Tennis-Doppel sowie Bronze im Florett Einzel und im Schwimmen 4 x 100m Staffel der Frauen (erstmals ausgetragen).

Bei Karl Valentin fährt der Erzähler in vorgeblicher Unkenntnis des Spiels zum „Fußballrennen“, vermutet bei der Anzahl der Zuschauer eine Drehbühne, wird aber enttäuscht. Als es auch noch zu regnen beginnt, ist er „überzeugt, daß die Menschen vom Affen abstammen“, denn als er den Regenschirm aufspannt, machen es ihm alle nach. Endlich pfeift der „Amtsrichter“ das Spiel an. „Enden tat das Spiel mit dem Sieg der einen Partei – die andere Partei hatte den Sieg verloren. Es war vorauszusehen, daß es so kam.“ Aus: Brillantenfeuerwerk (1938)

Das Geniale und der Sport

Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (1930)
Ulrich, die zentrale Figur des Romanfragments, liest in der Zeitung das Wort „geniales Rennpferd“. „Es hatte damals schon die Zeit begonnen, wo man von Genies des Fußballrasens oder des Boxrings zu sprechen anhub, aber auf mindestens zehn geniale Entdecker, Tenöre und Schriftsteller entfiel in den Zeitungsberichten noch nicht mehr als höchstens ein genialer Centre-half oder großer Taktiker des Tennissports. Der neue Geist fühlte sich noch nicht ganz sicher.“

Ödön von Horváth: Sportmärchen (1926) In: Teddy Podgorski (Hg.): Muskeln auf Papier (1986):   
„Als jener geniale Mensch, der als erster seines Geschlechts aus der Baumwipfelheimat zu Boden sprang – da wurd die Leichtathletik geboren.“

Sport&Literatur_Handke Tormann Suhrkamp
© Suhrkamp Literaturzeitung, März 1975

Sport und Mord

Peter Handke: Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1970)
In Handkes frühem Roman, einem Bestseller, ist der Sport Folie, eine Lebensallegorie. Es ist die Geschichte des Monteurs und Frauenmörders Josef Bloch, eines ehemaligen Tormanns, der, anstatt zu fliehen, ein Fußballspiel besucht.
„Der Schütze lief plötzlich an. Der Tormann, der einen grellgelben Pullover anhatte, blieb völlig unbeweglich stehen, und der Elfmeterschütze schoss ihm den Ball in die Hände.“

Daniel Kehlmann: Ruhm – Ein Roman in neun Geschichten (2009):
„Auf seinem sonnenbesprenkelten Rasen in Parati machte er regelmäßig Zielübungen, mal mit Pfeil und Bogen, mal mit leichtem Sportgewehr, vor dem geduldigen Rund einer Zielscheibe. Ruhige Hand schafft ruhigen Sinn (….)“ Der erfolgreiche Autor Miguel Auristos Blancos erwägt einen Selbstmord.

Nachspiel

Hans Weigel: Austria und Rapid (1956): „Nicht auf den Effekt kommt es an, sondern auf die Effekte, nicht auf das Resultat, sondern auf das Spiel, nicht auf das Ziel, sondern auf den Weg … Andere mögen Tore schießen, tu felix Austria spiele!“
„Und tiefer als zwischen den ´Roten` und den `Schwarzen` und ihrem Anhang ist die Kluft zwischen den Anhängern der ´Violetten` und denen der `Grünen`, denn hier, zum Unterschied von der Politik, stehen wirklich elementare Gegensätze der Weltanschauung unversöhnlich gegeneinander.
Rapid gibt sein Äußerstes erst in der entscheidenden Phase vor dem Schluß, der berühmten ´Rapid-Viertelstunde` (…) die Rapidler sind die Preußen Österreichs (…)“

Siegfried Lenz: Brot und Spiele (1959), Lenz war Leichtathlet (Speerwurf)  
„(…) die Arenen der Welt sind zu Spiegeln geworden, in denen sich vieles abbildet: die Wünsche, Ehrgeize, die Hoffnungen und Sehnsüchte der Zeitgenossen, aber auch ihre Leidenschaften, Neurosen und Hysterien, ihre Räusche und Ansprüche.“

Zu soziologischen Unterschieden meint Ludwig Hirschfeld: Wien (Reihe: Was nicht im Baedeker steht), 1927:
„In den eleganten oder so tuenden Kreisen schwärmt man nach Fähigkeiten und Mitteln für Reiten, Golf, Lawn Tennis und Leichtathletik. Das Volk aber kennt eigentlich nur einen Sport: Fußball.“

Arthur Schnitzler gehörte wie Felix Salten zu den begeisterten Bicyclisten, wie Radfahrer in der Frühzeit der 1880er Jahre hießen, als noch Führerschein und Nummerntafel als Legitimation vorgeschrieben, Laterne und Trillerpfeife mitzuführen waren und Radfahren in den Straßen der Stadt fast überall verboten war. Schnitzler hatte stets fabrikneue Räder aus England, er gehörte aber nicht dem exklusiven Wiener Bicycle Club im Prater Cottage an, sondern der Radfahrer Union Vorwärts in der Augartenstraße. Die beiden Dichter unternahmen weite Ausfahrten.

Cordoba, 21. Juni 1978, 88. Minute
Edi Finger, ORF:
„Jetz geht’s noch drei Minuten, meine Damen und Herrn, wemma diese drei Minuten schon hinter uns hätten, ja dann dann dann, ich wage es nicht zu sagen, da würde mir wirklich ein Fels vom Körper – jetzt aber aufpassen! … und jetzt kann Sara sich einen aussichtslos scheinenden Ball eh … erho … hereinholen, es gibt Beifall für ihn, da kommt Krankl – Toor!! Toor!! Toor!! Tor! I werd narrisch!! Krankl schießt ein! Dreizuzwei! für Österreich …"

Armin Hauffe, ARD:
Ein katastrophaler Fehler von Rüßmann, der wieder einen Ball falsch berechnet, und davon profitiert Krankl, dem man nachsagt, er wolle zu Valencia. Rolf Rüßmann im Zweikampf gegen Krankl, den verliert er schon wieder, und Krankl geht jetzt in den Strafraum – Tor? – Für Maier gibt es da in der achtundachtzigsten Minute nichts mehr zu halten. Krankl heißt der Torschütze. Dreizuzwei führt Österreich.“
Gegenüber gestellt von Ror Wolf: Die heiße Luft der Spiele (1980).

Nachwort: Kickende Autoren

Gerhard Ruiss (IG Autorinnen Autoren): „Wir kopierten instinktiv das Österreichische Wunderteam. Zusammengefischt aus dem literarischen Leben („Da habt’s euer Schmieranskiteam!“, Hugo Meisl, 1931) starteten wir 2006 als Sparringpartner mit einer 2 : 8-Auftaktniederlage gegen Ungarn („Heute spielt Österreich-Ungarn. Gegen wen?“, Unbekannt, vor 1918) und einer nachfolgenden Siegesserie gegen die Schweiz 7 : 1, gegen Slowenien 6 : 1, neuerlich gegen die Schweiz 2 : 0 und gegen die Slowakei 18 : 0. Bevor wir noch wie das Wunderteam Europameister werden konnten, riss die Siegesserie ab, da sich die anderen Mannschaften mit außerliterarischen Spielern verstärkten. Idee und Ziel unseres Fußballnationalteams war, etwas gegen körperloses Schreiben und kopfloses Spiel zu unternehmen. Das wichtigste blieb stets die Dritte Halbzeit von häufig gleich anschließend am Platz durchgeführten Literaturveranstaltungen.“

Sport&Literatur_Fanpostkarte
Fanpostkarte Österreichisches Autorenwunderteam, © Michael Stiller

Fanpostkarte Österreichisches Autorenwunderteam: v.l.n.r., stehend: Willy Kaipel (Trainer, Torhüterlegende, Wr. Sportclub), Michael Stiller (ULNOE), Jan Zenker, Reinhard Prenn, Robert Menasse (Ehrenkapitän), Christoph Mauz, Christian Futscher, Christian Nothegger, Günther Stocker
v.l.n.r., hockend: Thomas Schafferer, Wolfgang Kühn (ULNOE), Gerhard Ruiss (Mannschaftskapitän), Ferdinand Schmatz, Michael Hansel, Egyd Gstättner, Arnold Knafl, Wofgang Bydlinski (Interimskapitän)

Ein Schwerpunkt der Beteiligten lag bei Lyrikern und Kinder- und Jugendbuchautoren sowie vorerst ebenso, aber später nicht mehr, bei der wissenschaftlichen Literatur.
Weitere temporär oder später beteiligte bekannte Autoren waren u.a.: Martin Amanshauser, Austrofred, Clemens Berger, Franzobel, Heinz Janisch.

Das letzte Länderspiel fand 2016 gegen Italien in Wien statt und endete 1 : 1 unentschieden.

Umberto Eco: Das Sportgerede (1969) – In: Über Gott und die Welt (1985)
„Wenn der betriebene Sport gesund ist, so gesund wie Nahrungsaufnahme, dann ist der gesehene Sport die Mystifizierung dieser Gesundheit.“
Das mag gleichermaßen für den gelesenen Sport gelten.

 

Collage: Gerhard Hintringer

Sonderausstellung
I wer´ narrisch! Das Jahrhundert des Sports
13. März 2021 bis 9. Jänner 2022

Blog-Nachlese:
Der Mitropapokal und der Mitropacup
Fußball und Poesie. Literarische Randnotiz zu Masse, Macht, Mitropacup

Leseprobe:
Ilja Trojanow, deutscher Schriftsteller mit bulgarischen Wurzeln, hat in einem Selbstversuch vier Jahre lang in 24 Sportarten für 80 Disziplinen trainiert. 2016 hat er dazu ein Buch vorgelegt.

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