Hans Morgenstern

© NÖ Museum Betriebs GmbH, Foto: Monika Schaar

„Nicht vergessen, was gewesen ist.
Das ist eigentlich der Sinn von dem Ganzen.“

Der letzte Überlebende des Holocaust in St. Pölten

Das Interesse war überwältigend: Knapp vierhundert Menschen fanden sich am Dienstag, den 24. September 2019 im Haus der Geschichte im Museum Niederösterreich ein, um das Zeitzeugen-Forum „Erzählte Geschichte“ zu besuchen. Sie alle wollten hören, was der letzte Überlebende des Holocaust von St. Pölten, der 1937 geborene Hans Morgenstern, zu sagen hat.

Die jüdische Gemeinde in St. Pölten

Zu Beginn dieses „Festes für Hans Morgenstern“, wie es Martha Keil nannte, gab die Direktorin des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs einen Einblick in die jüdische Gemeinde St. Pöltens vor dem Vernichtungszug der Nazis. Seit 1421 gab es ein striktes Ansiedelungsverbot für Jüdinnen und Juden in Niederösterreich, das erst mit der bürgerlichen Revolution von 1848 zu Fall kam. Die Familie von Hans Morgenstern siedelte sich wie viele andere aus Böhmen oder Mährend kommend Ende des 19. Jahrhunderts in der aufstrebenden Industriestadt St. Pölten an. 1859 kaufte die jüdische Gemeinde ein Friedhofsareal, das 1906 nochmals an den heutigen Standort verlegt wurde und 1883 entstand die Israelitische Kultusgemeinde in St. Pölten. Die erste Synagoge war bald zu klein und so entstand 1912/13 der von den Nazis schwer in Mitleidenschaft gezogene aber bis heute existierende Prachtbau von Theodor Schreier und Viktor Postelberg.

Antisemitismus gab es verstärkt seit den 1880er-Jahren, der dann mit dem Nationalsozialismus endgültig eskalierte. 1938 gab es im Sprengel St. Pölten in etwa 1.000 Mitglieder der IKG. Eine genaue Zahl der Jüdinnen und Juden festzulegen ist schwierig, da ja die Nazis auch Menschen als Juden definierten, die sich selbst nicht als solche sahen. Etwa 400 lebten in der Stadt St. Pölten und der Rest im Umkreis. Bis dato sind durch intensive historische Recherchen 420 Opfer des NS-Regimes namentlich bekannt. Von weiteren 155 Menschen ist nichts mehr über ihr Schicksal bekannt, was es sehr wahrscheinlich macht, dass sie auch ermordet wurden. Sicher ist, dass rund die Hälfte der jüdischen Gemeinde in St. Pölten die Shoah nicht überlebt haben. Wenige Familien, die geflüchtet waren, sind auch wieder zurückgekehrt, zu wenige, um wieder ein religiöses Leben in St. Pölten entstehen zu lassen.

Der Weg nach St. Pölten

betty Fischl
Urgroßmutter Barbara Betty Fischl

Es war die Familie der Urgroßmutter Hans Morgensterns, Barbara „Betty“ Fischl, die sich aus dem mährischen Tucap kommend in der Kremsergasse 17 in St. Pölten niederließ. Sie nahmen aus Mähren einen Kiduschbecher und eine Besamimbüchse mit, die Egon Morgenstern vor der Shoah rettete und wieder zurück nach St. Pölten brachte. Nach Palästina brach die Familien Morgenstern noch mit Sack und Pack auf, sie beauftragten eine Spedition. Nach Österreich zurück kamen sie nur noch mit wenigen Erinnerungsstücken. Hans Morgensterns Großmutter Johanna Morgenstern war die älteste von vier Töchtern der Betty Fischl. Alle vier haben den Holocaust nicht überlebt. Eine Schwester nahm sich in Prag vor der drohenden Deportation das Leben. Betty Fischl musste St. Pölten Richtung Wien verlassen, um die Stadt „judenrein“ zu machen, wie es die Nazis nannten. „Sie hatte das Glück gehabt, dass sie rechtzeitig 1941 noch sterben konnte, bevor sie deportiert worden ist“, erklärte Hans Morgenstern nachdenklich.

Der Onkel von Hans Morgenstern verunglückte im Alter von 17 Jahren bei einem Bergunfall, ein schwerer Schicksalsschlag, den sein Vater Egon Morgenstern lange nicht überwand. Egon Morgenstern war aufgrund einer Kinderlähmung teilweise bewegungsunfähig, meisterte aber sein Schicksal. Ein Foto aus dem August 1938 zeigt die stolze Familie: Stella Morgenstern, geborene Bacher, Egon Morgenstern und den am 11. Dezember 1937 geborenen Hans Morgenstern. Zum so genannten „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland war Hans Morgenstern drei Monate alt. „Haben dir deine Eltern viel darüber erzählt?“, will Martha Keil wissen. „Ja, natürlich, sehr viel sogar, aber nur, weil ich so viel gefragt hab‘“, lacht Morgenstern. „Mich hat das alles sehr interessiert! Da war ich so 13, 14 Jahre alt.“

Der Antisemitismus wird zum Gesetz

Familie Morgenstern
Familie Morgenstern - Stella, Egon, Hans
Zunächst kam ein deutscher Offizier und warf die Familie Morgenstern aus ihrer Wohnung, weil er sie haben wollte. „Wir haben Glück gehabt im Vergleich zu anderen Leuten, weil wir in den Kanzleiräumen meines Vaters in der Kremsergasse wohnen konnten, weil er sowieso Berufsverbot bekommen hat. Er bekam einen Brief von der Rechtsanwaltskammer, um diesem Verbrechen ein legales Gesicht zu geben.“ Ohne Wohnung und mit Berufsverbot blieb nur noch die Flucht. Eine Odyssee des Vaters von Botschaft zu Botschaft begann, um ein Visum für Palästina zu bekommen. Für das Visum, das in Basel abgeholt werden musste, wurden brillantene Ohrringe der Großmutter verkauft. Im März 1939 ging es zunächst mit dem Zug nach Basel, dann über Mailand und Triest mit dem Schiff nach Tel Aviv.

Haben Ihre Eltern schon geahnt, was die Nazis mit der jüdischen Bevölkerung vorhaben könnten?“, wollte Moderator Reinhard Linke wissen. „Nein, es gab aber das Berufsverbot und es gab ja einen fürchterlichen Terror. Man hat sich ja gar nicht erst auf die Straße getraut als Jude. Meine Mutter ist immer mit klopfendem Herzen einkaufen gegangen. Das war furchtbar. Das hätte man nervlich gar nicht ausgehalten. Da musste man weg.“ Die bis dahin sozialdemokratische Stadt habe sich auf einen Schlag vollkommen verändert.

 

Ankunft in Tel Aviv

Hans Morgenstern und Cousin Hans Jochi Kohn
Hans Morgenstern und Cousin Hans Jochi Kohn
Ein weiteres Bild zeigt Hans Morgenstern und seinen Cousin Hans „Jochi“ Kohn aus der St. Pöltner Linzerstraße gemeinsam in Bat Yam, einem Vorort von Tel Aviv, im Jahr 1940. Die Familie seines Cousins konnte teuer aber bequem mit einem Kapitalistenzertifikat über Triest ausreisen. Hans Morgenstern hatte eine relativ unbeschwerte Kindheit und Jugend in Kindergarten und Schule. Sein Vater fand aber über zwei Jahre keinen Job und musste von der Flüchtlingshilfe leben. Erst durch Vermittlung einer ebenfalls emigrierten Wiener Rechtsanwältin fand er eine Arbeit im British Institute in der Bibliothek. Er konnte nicht Englisch, da er in der Schule Französisch gelernt hatte und belegte einen Intensivkurs. „Er konnte in ein paar Wochen besser Englisch als ich nach acht Jahren Gymnasium“, lachte Morgenstern. Hans Morgenstern lernte als Kind spielerisch hebräisch. Zuhause wurde weiter Deutsch gesprochen. Heimisch gefühlt haben sich die Eltern von Hans Morgenstern in Israel allerdings nie.

Zurück in das Nachkriegsland

Als die Rückreise von Palästina nach Österreich anstand, ließen die Eltern Hans Morgenstern im Ungewissen: „Meine Eltern haben mir nicht gesagt, wohin wir fahren. Die haben so getan als übersiedeln wir von Tel Aviv nach Jerusalem.“ Nach einem herzzerreißenden Abschied von der Familie des Cousins war ihm aber klar, dass das nicht stimmen konnte. Mit dem Zug ging es von Tel Aviv nach Ägypten. Drei Monate lang warteten Sie in einer Zeltstadt gemeinsam mit anderen Flüchtlingen auf das Schiff, das sich nur mühsam den Weg durch das verminte Meer bahnen konnte. Als das große Militärschiff vor ihnen stand und nur mit einer Strickleiter zu besteigen war, war die Sorge groß, der gehbehinderte Vater könnte es nicht schaffen. Zwei englische Soldaten halfen ihm bei diesem beschwerlichen Weg.

Familie Morgenstern 1955
Familie Morgenstern 1955
Nach fünf Tagen am Schiff kamen Sie in Venedig an. Mit dem Zug ging es im Mai 1947 weiter zum Südbahnhof „ins gelobte Land Österreich“. Da habe sie der damalige Bundeskanzler „über Lautsprecher willkommen geheißen und jeder hat ein Paar Würstel bekommen.“ Mit dem Lastwagen ging es Monate später von Wien nach St. Pölten. Die ersten Monate nach der Rückkehr lebte die Familie Morgenstern im Hotel Böck. Als Egon Morgenstern nach St. Pölten zurückgekehrt war, gab es genug Arbeit, da die Nazis zumindest für drei Jahre Berufsverbot hatten und viele Anwälte Nazis waren. Egon Morgenstern konnte als Anwalt einige Rückstellungen durchführen. „Die Mehrheit waren Nazis, aber nicht alle“, so Morgenstern. Auch der für damals die Arisierungen verantwortliche Beamte Schinnerl war später für die Restitutionen verantwortlich. „Sie waren zu uns freundlich, weil ihnen nichts anderes übrig geblieben ist, als freundlich zu sein.“ Eine Bekannte begrüßte Egon Morgenstern nach dem Krieg nur lapidar mit den Worten: „Na, jetzt hätt ma‘ den Hitler auch überstanden.

Wer hat überlebt?

Die Familie Morgenstern hatte damit gerechnet, dass ihre Verwandten, die in Österreich geblieben sind, nicht überlebt hatten. Das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes verschaffte ihnen dann Gewissheit. „Wann wurde Ihnen das gesamte Ausmaß des NS-Terrors bewusst?“, wollte Reinhard Linke wissen. „Das habe ich erst erfahren, als ich im Obergymnasium war. Ich habe sehr viele Bücher darüber gelesen. Das hat man durch die Zeitungen auch erfahren können.“ In den 1970er-Jahren erinnert sich Hans Morgenstern an die baufällige Synagoge mit holzverschlagenen Fenstern, aus denen Tauben geflogen kamen. Damals glaubte niemand an einen Wiederaufbau des Gebäudes. Die IKG in Wien wollte das Gebäude abtragen und das Grundstück verkaufen. Das Bundesdenkmalamt wollte aber den Bau schützen, weil es Jugendstil war. Jedes Mal, als er an der Synagoge vorbei ging, dachte er sich: „Das haben die Einwohner von St. Pölten gemacht. Warum sind wir in dieses Land zurückgekommen?“ Eine erneute Rückkehr nach Israel war für ihn aber keine Option.

Erinnern als Lehre aus der Geschichte

Stein der Erinnerung
Stein der Erinnerung für Johanna Morgenstern

Für Martha Keil war Hans Morgenstern „derjenige mit dem Fotoalbum“, weil er sehr bald begann, Erinnerungen an die in der Shoah ermordeten St. Pöltnerinnen und St. Pöltner zu sammeln. „Ich habe allen überlebenden St. Pöltnern – meist leben sie heute in Amerika - geschrieben und sie um ein Foto gebeten.“ Auch die Opfer des Holocaust sind in diesem Album aufgezählt und mit einem „H“ markiert. Er erklärt, warum: „Ich habe mir gedacht, jetzt gibt’s keine Gemeinde mehr. Man muss irgendwie die Erinnerung bewahren.“ 1992 wurde mit dem damaligen Oberrabiner Paul Jaim Eisenberg, Bürgermeister Willi Gruber und anderen die erste Gedenktafel an der Synagoge enthüllt. Am 4. Oktober 2018 wurden schließlich Steine der Erinnerung für Hans Morgensterns Großeltern Stefanie und Jakob Winterstein sowie Johanna Morgenstern in der Franziskanergasse 3 und Kremsergasse 17 gesetzt. „Ich hätte mir nie gedacht, dass meine Großeltern einen Gedenkstein bekommen würden“, zeigte sich Morgenstern bewegt. Mittlerweile gibt es auch eine Online-Datenbank über Überlebende und Opfer der Shoah in St. Pölten, die Menschen aus aller Welt einsehen können.

In einem früheren Zeitungsinterview betonte Hans Morgenstern, dass Österreich immer antisemitisch gewesen sei. Zu Zeiten der Monarchie hätte das aber keine Auswirkungen gehabt, weil der Kaiser seine Hand schützend über die jüdische Bevölkerung gehalten habe. Hans Morgenstern beteuerte, persönlich nie Antisemitismus erlebt zu haben bis vor einem halben Jahr, als plötzlich ein Hakenkreuz auf seine Tür geschmiert wurde. Er ging damals sehr diskret vor: „Totschweigen ist die ärgste Strafe für die!“, erklärte er, und erntete Applaus vom Publikum. Verunsichert hätte ihn das nicht: „Ich habe mir nur gedacht, hoffentlich passiert das nicht öfter.“ „Es ist immer die Frage: Ist das ein Extremist oder ist das die Meinung der Mehrheit?“ Es sind zwei Drittel des europäischen Judentums ausgerottet worden. Dass man darüber nicht locker hinweggehen kann, sei klar.

Hans Morgenstern
Hans Morgenstern bei der Steinlegung
Hans Morgenstern ist bis heute in der Erinnerungsarbeit engagiert. Er ist Autor des vor zehn Jahren erschienenen Jüdischen Biographischen Lexikons mit 6.000 Biographien aus Kunst, Kultur und Wissenschaft auf rund 1.000 Seiten von 1800 bis ins 20. Jahrhundert. Er sei der Meinung, dass die Jüdinnen und Juden etwas für die Gesellschaft geleistet haben. Und wer das nicht wisse, solle sein Buch lesen. Um fit zu bleiben, arbeite er gerade an einem Ergänzungsband. Dafür lese er täglich internationale Zeitungen. „Nicht vergessen, was gewesen ist. Das ist eigentlich der Sinn von dem Ganzen“, ist sein Plädoyer zum Schluss der Veranstaltung, die mit Gesprächen bei Brot und Wein ausklingt.

Ins Gästebuch notiert er später: „Ich habe mich bemüht, meine ‚Geschichte‘ zu erzählen, die nicht nur lustig ist – aber doch mit ein wenig Humor. Mit besten Wünschen und vielen Dank. H. Morgenstern

Text: Florian Müller

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