„Titanenhaft hebt Brücke sich auf Brücke“

Reichenau und Raxalpe, Stahlstich nach Nicolas-Marie-Joseph Chapuy (1790–1858), aus: Österreichischer Lloyd (Hg.), Die Staatsbahn von Wien bis Triest mit ihren Umgebungen, Triest 1856 (© Bayerische Staatsbibliothek)

25 Jahre UNESCO Welterbe Semmeringbahn
175 Jahre Baubeginn der Semmeringbahn

In überschwänglichen Zeilen rühmten die Zeitgenossen – Dichter und Journalisten – den Bau der Semmeringbahn, wie etwa Ludwig August Frankl (1810-1894) in einem 15-strophigen Gedicht über seine Semmeringfahrt, aus dem das obige Zitat stammt. Gepriesen wurden die landschaftliche Schönheit, aber auch der menschliche Schöpfergeist, dem es gelungen war, diese Gebirgsbarriere zu bewältigen. Nähert man sich von Wiener Neustadt den sich im Südwesten erhebenden Bergmassiven, so zeichnet sich deutlich der 984 m hohe Semmering-Pass ab, den es zu überwinden gilt, will man vom Wiener Becken in das Mürztal, von Niederösterreich in die Steiermark, von Wien an das adriatische Meer.

Zunächst schlängelte sich ein Saumpfad durch die undurchdringlich scheinenden Wälder und Felspartien. Im Mittelalter zu einer für Wagen befahrbaren Straße ausgebaut, machte Herzog Albrecht III. 1386 die „Venezianerstraße“ zu einer „privilegierten“ Straße. Die Kaufleute durften nun nur mehr diese Straße für ihren Warentransport verwenden. Kaiser Karl VI. forcierte deren Ausbau und beauftragte Giovanni Giacomo Marinoni 1726 mit der Trassierung einer Kunststraße. Den ca. 200 Arbeitern gelang es angeblich, den Bau binnen 48 Tagen fertigzustellen, zumindest behauptete dies die Staats- und gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten anlässlich ihres Berichtes über die Reise Kaiser Karls VI. nach Fiume und Triest. Nach dem Wiener Kongress und der Rückgabe der italienischen Gebiete an die Habsburger drängte der 1833 in Triest gegründete Österreichische Lloyd, der den Handel mit der Levante und anderen Mittelmeerländern intensivieren sollte, auf einen weiteren Ausbau der „Triester Straße“. Die im Mai 1839 begonnenen Arbeiten wurden zwei Jahre später abgeschlossen. Am 17. August 1841 eröffnete Kaiser Ferdinand I. die neue Kunststraße und befuhr sie in einem sechsspännigen Reisewagen.

Aber nicht nur der Österreichische Lloyd drängte auf einen Ausbau der Strecke. Auch die Besitzer der Salzbergwerke in Österreichisch-Schlesien und der in Mähren gelegenen Kohle- und Erzvorkommen hatten Interesse an einer zukunftsweisenden Verbindung mit den Hafenstädten an der Adria. Sie setzten auf das neue Verkehrsmittel der Eisenbahn. So entstand das erste Teilstück der Kaiser-Ferdinand-Nordbahn, finanziert von Salomon Rothschild. Sein Bank-Konkurrent Simon Georg Freiherr von Sina erwarb 1836 das Privileg für den Bau einer Bahnstrecke von Wien nach Triest. Als Projektleiter gewann er Matthias von Schönerer, der gerade die Pferdebahn Budweis-Linz-Gmunden plante. Bereits am 5. Mai 1842 konnte die Bahnstrecke Wien-Gloggnitz eröffnet werden.

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Die Ankunft des ersten Zuges der Südbahn in Gloggnitz, Öl auf Leinwand, Anton Schiffer (1811–1876), 1842, Landessammlungen NÖ (© Landessammlungen NÖ)

Im selben Jahr wurde die Trassierung des Streckenabschnitts Graz-Mürzzuschlag der „Südbahn“ durch Kaiser Ferdinand I. genehmigt. Am 21. Oktober 1844 erfolgte die Eröffnung. Nun stand man aber an: Denn zwischen den Bahnhöfen Mürzzuschlag und Gloggnitz erhob sich das unüberwindlich erscheinende Bergmassiv des Semmerings. Dessen Bewältigung war nur durch den Bau einer Gebirgsbahn möglich – ein bis dato noch nie gewagtes Unternehmen. Vorerst mussten die Reisenden aussteigen und mit einem Pferdegespann die Strecke nach Gloggnitz bzw. Mürzzuschlag bewältigen – ein blendendes Geschäft für die Postwagen und die privaten Fuhrwerkunternehmer. Damit man sich eine Vorstellung von den anfallenden Fahrten über den Semmering machen kann, hier eine Zahl: Im ersten Jahr überquerten 26.000 Personen und 28.000 Tonnen Fracht den Pass.

In Wien setzte zu dieser Zeit ein Umdenken ein: Der Schwerpunkt sollte nun auf dem Ausbau des Bahnwesens liegen. Erste Schritte waren die Verstaatlichung bereits bestehender Bahnlinien und die Einbindung von erfahrenen Fachleuten in den Staatsdienst; darunter war Carl Ritter von Ghega, der 1842 zum Gesamtplanungsleiter der „Südbahn“ ernannt wurde. Eine Studienreise führte ihn in die USA, wo er besonders den Eisenbahnbau in den Gebirgszügen der Appalachen studierte. Zurück nach Wien begann er mit der Planung der Semmeringbahn, die zahlreiche Zweifler auf den Plan rief. Dass letztendlich Ghegas Einreichungspläne angenommen wurden, verdankte er u.a. der Revolution 1848. Ein solches gewaltiges Bauvorhaben schuf Arbeitsplätze, holte so die Arbeitslosen von den Straßen Wien und entschärfte damit die angespannte soziale Situation in der Residenzstadt. Im Juni 1848 erfolgte die Genehmigung des Baus, der 7. August 1848 markierte den Baubeginn. Es galt eine Höhendifferenz von 457 m zu überwinden. Dies sollte auf rund 41 km mit 16 ein- und zweistöckigen Viadukten, 15 Tunneln und 100 Eisenbahnbrücken geschehen.

Organisation, Arbeiter:innen, Arbeitsbedingungen

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Baustelle beim Viadukt „Kalte Rinne“, Lithographie, Imre Mária Kertbeny (1825–1855), um 1850 (© NÖ Landesbibliothek, Topographische Sammlung)

Um ein solches riesiges Bauvorhaben in möglichst kurzer Zeit zu bewältigen, war eine straffe Organisation notwendig. Die Strecke wurde in 14 Baulose eingeteilt; deren Vergabe an Einzelunternehmer erfolgte in einem geheimen (!) Ausscheidungsverfahren. Diese mussten die Bauarbeiten mit eigenen Ingenieuren und Arbeitern durchführen, sich dabei nach den übergebenen Plänen richten und den Fertigstellungszeitpunkt einhalten. Die örtliche staatliche Bauleitung kontrollierte zumindest wöchentlich den Baufortschritt und die Bauausführung. Wurden die Arbeiten vorschriftsmäßig durchgeführt, so erhielten die Unternehmer die angefallenen Kosten für Baumaterial und Lohn rückerstattet. Die örtliche Bauleitung befand sich im Schildwirtshaus „Zur Goldenen Krone“ in Schottwien.

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Schottwien, ehem. Schildwirtshaus „Zur Goldenen Krone“, Sitz der örtlichen Bauleitung (Veleius © CC0 1.0 Universal Public Domain Dedication)

Die für 1854 geplante Fertigstellung machte es notwendig, dass auf den Baulosen zwischen 10.000 und 20.000 Arbeiter:innen gleichzeitig tätig waren. Das Umland und Wien konnten diesen Bedarf an Arbeitskräften nicht decken. Man holte sich Fachleute aus allen Gebieten der Monarchie und aus den umliegenden Ländern, wie die Illustrirte Zeitung vom 14. Dezember 1850 schildert, wobei sich der Berichterstatter auch der üblichen Klischeebilder bedient: So interessant die einzelnen Objecte dieses Riesenbaues für den fußreisenden Beschauer sind […], so wird ihn doch das rege Leben hier sowie die Individualitäten der einzelnen Arbeitermassen nicht minder ansprechen und reichlichen Stoff zu Studien geben. Die Arbeiten am Semmering geben ein deutliches Bild der östreichischen Monarchie, man findet hier alle Volksstämme vertreten, und es fällt dem Beschauer nicht schwer, selbst da, wo sie nicht nach Nationalitäten gesondert arbeiten, die verschiedene Abstammung zu erkennen. Der fleißige, nüchterne Deutsche, welcher größtentheils in der Maurerclasse, dann als Aufseher, Steiger und Ingenieur bei den Schachtarbeiten gefunden wird, contrastirt gewaltig gegen die feurigen Wälschtyroler und Lombarden, welche in Massen am Semmeringtunnel und den Erdanschüttungen daselbst getroffen werden; einen noch größern Gegensatz bilden diese zu dem slavischen Theile der Arbeiter, welche im Ganzen bei dem Kartnertunnel, dann zerstreut auf der ganzen Bahn arbeiten. Es müßte eine lohnende Aufgabe sein, diese verschiedenen Stämme in ihren ebenso charakteristischen, wie verschiedenen Leben und Gebräuchen, Sinnen und Treiben hier zu studiren und wiederzugeben, da dann deutlich und sprechend hervorgehen würde, wie unmöglich es ist, alle Nationen der polyglotten Monarchie nach einer Chablone zuschneiden zu wollen. Die Sachsen werden hier gewöhnlich als Berg- und Grubenleute bei Tunnelschachten gefunden. Ein Sachse, Namens Herbert, ist Obersteiger und leitet die letzten Schachte im Mürzthal. Wenn man des Nachts in den tiefen Schacht fährt, gewinnt das Ganze in der zauberhaften Beleuchtung der Grubenlichter einen magischen Anstrich […]. Steigen wir wieder hinauf, um frei athmen zu können, so finden wir gleich oben den italienischen Erdarbeiter, das lebhafte Treiben derselben, das stets aufgeräumte Wesen der jüngern Generation übt einen wohlthuenden Eindruck und wird nur hie und da durch das etwas zu sehr an das Aussehen der listigen und nicht sehr ehrlichen Bewohner der Abruzzen erinnernde Gesicht und den Anzug Einzelner gestört.

 

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Links: Slovenischer Deichgräber, aus: Illustrirte Zeitung, Leipzig, 19. Oktober 1850, rechts: Sächsischer Steiger, aus: Illustrirte Zeitung, Leipzig, 14. Dezember 1850 (© Bayerische Staatsbibliothek)

Die Anfangszeit war für die Einheimischen nicht leicht, da keinerlei Vorkehrungen für die „Invasion“ von Arbeitern getroffen worden waren. So berichtet die Pfarrchronik zum Jahr 1848: Der siebte August war der furchtbare Tag, an welchem der ganze revolutionslustige Schwarm von Deutschen Fahnen ganz unerwartet, ohne daß vorher die geringste Vorkehrung zum Unterstand und Unterhalt dieser Menschen getroffen worden war, in Payerbach anrückte, und sich wie eine Hunnenhorde über das kleine Dörfchen ergoß. Ohne zu fragen, wurden sogleich alle Zimmer und Räume des Ortes in Besitz genommen […]. Die Zustände besserten sich mit der Zeit, und so konnte der Berichterstatter der Illustrirten Zeitung zum 14. Dezember 1850 berichten: Die Gebrüder Klein, die Bauunternehmer dieser Strecke [= Haupttunnel], haben nämlich hier eine artige Colonie gegründet, die aus netten zum Theil steinernen Wohngebäuden besteht; dann befindet sich hier das von denselben errichtete Gasthaus in zwei Classen, für die Erdarbeiter und die Ingenieure. Erstere bekommen hier für 18 Fr. ein kräftiges Mahl, auch ist hier eine Kegelbahn, ein Zeitungszimmer und anderes Amusement, ohne welches der Aufenthalt hier auf längere Zeit, besonders im Winter, unerträglich wäre. Und über die Baustelle beim Kartnerkogel-Tunnel heißt es in der Zeitung vom 14. Oktober 1850: Die Bäume sind weit und breit gefällt, der Boden umgewühlt und eine kleine Breterstadt emporgewachsen. Hier residirt die oberste Leitung des ganzen Baues, die Hauptcasse befindet sich daselbst, und in den Ruhestunden ist es der gesellige Vereinigungspunkt auch für die entfernten Stationen. Ein ewiges Kommen und Gehen […].

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Detail des Gerüstes für den Bau des Viaduktes „Kalte Rinne“, Lithographie, Imre Mária Kertbeny (1825–1855), um 1850 (© NÖ Landesbibliothek, Topographische Sammlung)

Betrachtet man die Bilder, die Imre Mária Kertbeny von den Baustellen entlang der Bahnstrecke angefertigt hat, so kann man sich kaum vorstellen, wie diese Arbeiten ohne die heute bekannten technischen Geräte durchgeführt werden konnten. Meterhoch erhoben sich die Holzgerüste für die Viadukte über die Taleinschnitte. So ist etwa das Viadukt über die Kalte Rinne ca. 184 m lang und 46 m hoch. Als Material für die Mauerungen dienten Bruchsteine, Ziegel und Quader – 0,61 Mill. m³ wurden dafür verbaut. 2,02 Mill. m³ Erdmaterial wurden bewegt, 1,39 Mill. m³ Felsmaterial musste von den Sprengungen abtransportiert werden; für die Sprengungen wurden 346 Tonnen Pulver verbraucht. Auf niederösterreichischer Seite errichtete man die Viadukte vorwiegend aus Ziegelmauerwerk, deren Pfeiler und Widerlager aus Hausteinen mit Quaderverkleidung, die Brücken aus Ziegeln oder Hausteinen.

Ein solches gigantisches Bauvorhaben forderte seine Opfer. Die Toten- und Sterbeprotokolle der umliegenden Pfarren verzeichneten 1.718 Todesfälle. Allerdings erlagen nur 89 Personen Arbeitsunfällen. Der schwerste ereignete sich bei einem Felssturz in der Weinzettelwand 1850. Vierzehn Arbeiter fanden in den Felsmassen den Tod. Alle Anderen wurden Opfer der elenden Wohnverhältnisse, der schlechten Ernährung und der mangelnden hygienischen Einrichtungen. 1850 wütete eine Choleraepidemie in den Barackenlagern. Notspitäler mussten in Schottwien, in der Kalten Rinne und auf dem Weberkogel errichtet werden. Auf einer Wiese unterhalb der Ruine Klamm fanden 1.048 Tote ihre letzte Ruhestätte, Arbeiter:innen und deren Angehörige.

1856 gab der Österreichische Lloyd einen Reise- und Kulturführer für die Bahnstrecke Wien-Triest heraus. Der Autor August Mandl schildert auf über 400 Seiten den Verlauf der Staatsbahn und die links und rechts von der Bahn liegenden Sehenswürdigkeiten. Besonders ausführlich widmet er sich der Semmeringbahn, deren Tunnel und Viadukte er detailreich beschreibt. Im Anhang illustrieren Stahlstiche den Text. Einige Schilderungen der beeindruckenden Bahnabschnitte seien hier noch zitiert:

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Das Schwarza-Viadukt bei Payerbach, kolorierter Stahlstich nach Nicolas-Marie-Joseph Chapuy (1790–1858), 1856 (© NÖ Landesbibliothek, Topographische Sammlung)

Eines der ersten Viadukte der Bahnstrecke ist das Schwarza-Viadukt mit einer Länge von 228 Metern und einer Höhe von 24 Metern. Der Bogenhalbmesser beträgt 253 Meter und besteht aus insgesamt 13 Bögen. Dieses Viadukt überspannt das gesamte Schwarza-Tal. Beeindruckt von diesem Bauwerk zeigt sich August Mandl (zu den bei Mandl verwendeten Maßen: 1 österr. Klafter =1,8965 m, 1 österr. Fuß=31,61 cm; die bei Mandl angegebenen Maße stimmen nicht genau mit den in der neuen Literatur angegebenen Strecken und Maßen der Semmeringbahn überein):

Von den zahlreichen Bau-Objecten ist der das Schwarzathal in der Länge von 120 Klaftern übersetzende Viaduct das längste aller hier vorkommenden, das würdige Propyläum des gigantischen Baues; er bildet zugleich die Scheitellinie der größten Serpentine, die sich längs dem Grillenberge nach Nordwest, und an der jenseitigen Höhe des Apfaltersbach wieder in südöstlicher Richtung hinzieht; […] An die mittleren 5 [Bogen] schließen sich zu beiden Seiten noch je 4 Bogen der lichten Weite von 31 Fuß. Der Viaduct, unter dem auch die Reichenauerstraße hinzieht, ist im Bogen des Halbmessers von 150 Klaftern gekrümmt; von Norden her gesehen erscheint er als das Segment eines riesenhaften Amphitheaters, von der entgegengesetzten Seite dient das nahe Payerbach mit seiner Kirche, durchaus nicht der kleinsten in Oesterreich, zur Folie der gewaltigen Dimensionen; sie würde sammt ihrer Thürme ganz gut unter einer der luftigen Wölbungen des Viaductes Platz finden.

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Viadukt bei Klamm, kolorierter Stahlstich nach Nicolas-Marie-Joseph Chapuy (1790–1858), 1856 (© NÖ Landesbibliothek, Topographische Sammlung)

Mit dem Schwarza-Viadukt wechselt die Bahnstrecke auf die rechte Talseite; Kühgraben-Viadukt, Pettenbach-Tunnel, Höllgraben-Viadukt, Steinbauer-Tunnel, Abfaltersbachgraben-Viadukt werden überwunden. Mit der Haltestelle Eichberg windet sich dann die Bahn hoch über Gloggnitz in das Tal östlich von Schottwien und nähert sich Klamm:

Durch den nachfolgenden Tunnel von Klamm, der Länge von 77 Klafter und 100 Klafter Krümmungsradius, gelangen wir zum gleichnamigen Stationsplatze, zuverlässig einem der reizendsten Puncte der ganzen Bergbahn. Unmittelbar vor uns erhebt sich auf den Fels-Terrassen der Spitze des Heukogels die Veste Klamm mit ihren von Baumgruppen und Buschwerk malerisch durchwirkten Gemäuer, und der runden, weit in das Land hinaus schauenden Warte, vor dem Schlosse eine kleine, üppig grünende Rasenebene, mit einigen schmucken Wohnhäusern und einem Kirchlein, Filiale der Pfarre Schottwien. Dies Stückchen Idylle über dem schwindelerregenden Absturze des Berges gegen Osten ist in der That überraschend. Ein Blick nach rückwärts zeigt etwa in gleicher Höhe mit uns die stattliche Veste Wartenstein, mehr nördlich von Waldgebirge umsäumt die glänzenden Streifen der Ebene mit der Unzahl größerer und kleinerer Ortschaften. Was aber vor Allem das Auge fesselt, ist die Vogelperspektive von Schottwien, zu der wohl in der ganzen Gegend kein günstigerer Punct zu finden ist; kein Situationsplan vermag die langen Häuserreihen mit der breiten Heerstraße in ihrer Mitte anschaulicher zu machen, und die an beiden Enden des Marktes zur Rechten und Linken herabgreifenden Felsmauern mit den Resten von Thürmen, und andern jetzt zum Theil unzugänglichen Befestigungen lassen die Bedeutung erkennen, welche dieser Engpaß in Stürmen des Mittelalters mehr als einmal glänzend bewährt hat.

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Die Weinzettelwand, Stahlstich nach Nicolas-Marie-Joseph Chapuy (1790–1858), aus: Österreichischer Lloyd (Hg.), Die Staatsbahn von Wien bis Triest mit ihren Umgebungen, Triest 1856 (© Bayerische Staatsbibliothek)

Tunnel und Viadukte führen uns weiter bis zur Weinzettelwand, eine der schwierigsten Passagen im Bahnbau. Über deren Bewältigung berichtet August Mandl Folgendes:

Die scharf gezackten Felsenzinnen der nächsten Höhe sind jene der Weinzirlwand [heute meist Weinzettelwand genannt], die an den Stellen, wo, um das nöthige Niveau zu erhalten, der Bahn Raum geschafft werden mußte, fast senkrechte Abstürze von 60 bis 70 Klafter bildet. Ursprünglich beabsichtigte man die Bahn mittels großartiger Sprengungen an der Außenseite der Wand hinzuführen, eine Aufgabe von unendlicher Schwierigkeit, […] Dem Scharfblicke des Ministers Freiherrn von Bruck, der im Jahre 1850 die Arbeiten besichtigte, konnte es nicht entgehen, daß die Bahn, in solcher Höhe der Felswand eingekerbt, auch dem entschlossendsten Reisenden unwillkürliches Grauen erregen musste, ebenso, daß sich nicht berechnen lasse, welche Maßregeln zu ihrer Sicherung noch nöthig würden, sobald die natürliche Verbindung des Gesteines durch den tiefen Einschnitt in seine Unterlagen gelockert war; sogleich ließ er die begonnenen Sprengungen einstellen und ordnete an, daß zur Durchbrechung der Felswand in ihrem compacten Theile mittels Tunnels und Gallerien der Plan verfaßt werde. Ihm verdanken wir eine dicht gedrängte Reihenfolge von Bauwerken, die, ziemlich genau die Mitte der Bergbahn einnehmen, an Interesse unstreitig alle Uebrigen weit überbieten, und, obleich bei ihnen auf Symmetrie durchaus keine Rücksicht genommen werden konnte, durch großartige Kühnheit, durch das Gepräge des Wild-Phantastischen zu sprachlosen Staunen hinreißen.

Semmeringbahn_KalteRinne
Viadukt Kalte Rinne, rechts im Bild die Polleros-Wand und das Viadukt Krauselklause, kolorierter Stahlstich nach Nicolas-Marie-Joseph Chapuy (1790–1858), 1856 (© NÖ Landesbibliothek, Topographische Sammlung)

Durch den Krausel-Tunnel und über das Krauselklause-Viadukt führt uns die Bahn schließlich zum Viadukt über die Kalte Rinne:

Wenn Etwas uns im Glauben zu bestärken vermag, das Weltwunder der schwebenden Gärten zu Babylon sei mehr als ein Gebild der üppigen Fabelwelt des Orients gewesen, so ist es der nun folgende Viaduct der kalten Rinne; der bescheiden gewählte Name ist schlecht gewählt, ein Thal von so ansehnlicher Breite zu bezeichnen, dessen Umwallung ein Bau von 97 Klaftern Länge und der gewaltigen Höhe von 144 Fuß, mit 4 Bogen der untern und 10 der Spannweite von 46 Fuß des obern Geschosses verbindet; es liegt auf ihm das Gepräge ernster Majestät, das die nun immer zunehmende Einsamkeit der Gegend um Vieles steigert. Von allen monumentalen Werken, welche die Bergbahn schmücken, ist dieser Viaduct unstreitig das kühnste, und so Manchem, der, als die Trace an beiden Bergseiten bereits bezeichnet war, von einem ihrer Endpuncte zum andern hinüber blickte, und tief unten schon die angehäuften Werkstücke gewahrte, hat die Vermessenheit des Vorhabens, den Zwischenraum in so schwindelnder Höhe zu überbrücken, ein ungläubiges Lächeln entlockt. Das Problem ist nun durch den herrlichen Bau gelöst, dessen schlanke Pfeiler und Wölbung, an sich höchst malerisch, sich von dem Grunde der rückwärts liegenden Waldberge abheben.

Eine Fertigstellung ohne Fanfaren

Am 24. September 1853 konnte der erste Zug den Haupttunnel der Semmeringstrecke passieren. Sieben Monate später – am 12. April 1854 – nutzte Kaiser Franz Joseph auf seiner Rückreise aus der Steiermark zum ersten Mal mit dem Hofzug die Strecke über den Semmering: Um 7 Uhr morgens verließ der Zug den Bahnhof Mürzzuschlag. Ab der Station Semmering wechselte der Kaiser vom Hofwagen in einen ungedeckten Wagen, um freie Aussicht über die Bahn zu erhalten, wie die Wiener Zeitung berichtete. Mehrmals hielt der kaiserliche Hofzug an, so bei der Kalten Rinne, in der Station Breitenstein, an der Großen Weinzettelwand-Galerie, in Klamm und Payerbach. Trotz der Aufenthalte dauerte die Fahrt bis Gloggnitz nur 1 Stunde und 50 Minuten. Die Strecke über den Semmering wurde in der Folge vom Hofzug oft befahren, stellte sie doch die schnellste Verbindung zur kaiserlichen Jagd in Neuberg an der Mürz dar. Eine halboffizielle Eröffnungsfahrt mit einem Sonderzug fand dann am 17. Juli 1854 – allerdings ohne Kaiser Franz Joseph – statt. Damit wurde die Strecke für den Personenverkehr freigegeben. Ausgiebig gefeiert wurde erst anlässlich von Jubiläen, so etwa 1904 und 1954. 1998 nahm die UNESCO die Semmeringbahn mit einer Kernzone von 156 ha Fläche und einer umgebenden Pufferzone von 8,581 ha Fläche in die Liste des Welterbes auf. Die angeführten Kriterien waren:

Die Semmeringeisenbahn steht für eine herausragende technische Lösung eines physikalischen Problems in der Konstruktion von früheren Eisenbahnen.

Mit der Errichtung der Semmeringeisenbahn wurden Gebiete von großer Naturschönheit leichter zugänglich und für Wohnbau und Erholung erschlossen; dies führte zu einer Schaffung einer neuen Landschaftsform.

Semmeringbahn_Bahnhof
Der Bahnhof Semmering mit dem Ghega-Denkmal, Aquarell auf Papier, Ludwig Czerny (1821–1889), nach 1870, Landessammlungen NÖ (© Landessammlungen NÖ)

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Autorin: Prof.in Dr.in Elisabeth Vavra


Verwendete und weiterführende Literatur:
Ausst.Kat. Die Eroberung der Landschaft. Semmering, Rax, Schneeberg, Nö Landesausstellung 1992, Wien 1992.
Ausst.Kat. Faszination Semmeringbahn. Eine Ausstellung des Technischen Museums Wien und der Marktgemeinde Reichenau an der Rax im Schloss Reichenau, Wien [2004].
Günter Dinhobl, Die Semmeringbahn. Eine Baugeschichte der ersten Hochgebirgseisenbahn der Welt, Wien 2018.
Österreichischer Lloyd (Hg.), Die Staatsbahn von Wien bis Triest mit ihren Umgebungen, geschildert von August Mandl, eingeleitet und poetisch begleitet von J. G. Seidl, Triest 1856.
Robert Pap, UNESCO Kulturerbe Semmeringbahn. Die erste Hochgebirgs-Eisenbahn der Welt, Berndorf 2017.
Ders., UNESCO Weltkulturerbe Semmeringland in Ölbildern, Aquarellen, Stichen, Lithographien und Fotos, Budapest 2000.
Ders., UNESCO Weltkulturerbe Semmeringbahn in historischen Ölbildern, Aquarellen, Stichen, Lithographien und Fotos, Budapest 1999.
Die Eisenbahn über den Semmering. I., in: Illustrirte Zeitung, Leipzig, 19. Oktober 1850.
Die Eisenbahn über den Semmering. II., in: Illustrirte Zeitung, Leipzig, 14. Dezember 1850.
 
Links zu spannenden Seiten im Internet:
Detaillierte Beschreibung der Strecke: http://members.nanet.at/jirout/index.htm
Eintrag auf der Website des Welterbezentrums der UNESCO: https://whc.unesco.org/en/list/785
Infoportal rund um die Semmeringbahn: http://www.semmeringbahn.at/
Südbahnmuseum in Mürzzuschlag: https://www.suedbahnmuseum.at/at/museum
Ghega-Museum in Breitenstein: http://www.ghega-museum.at/
Peter Rosegger, Als ich das erstemal auf dem Dampfwagen saß (kompletter Text): https://www.projekt-gutenberg.org/rosegger/waldbaur/chap014.html

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