Gassen mit Geschichte(n): 200 Jahre Felixdorf

Statue des hl. Felix von Cantalice, mit Inschrifttafel, 1823 (© Elisabeth Vavra)

Von manchen Orten in Niederösterreich kennt man das genaue Gründungsdatum, von anderen lässt es sich nicht genau festmachen, und manche haben das Glück, dass sie ihr Gründungsjubiläum eigentlich mehrfach feiern könnten – Das gilt auch für Felixdorf, der Marktgemeinde im südlichen Industrieviertel, ca. 10 km nördlich von Wiener Neustadt gelegen. Als Gründungsjahr könnte man 1821 bezeichnen: Denn in diesem Jahr entstand der Situations-Plan zur Anlage und Grundvertheilung der neuen Colonie Felixdorf an der Gutensteiner Strasse, und im selben Jahr fand der Verkauf der Ansiedlungsgründe im Rahmen einer Lizitation statt. Es könnte auch 1822 sein: Denn in diesem Jahr erfolgte die Eintragung der ersten 21 Liegenschaften in das Grundbuch. Und schließlich könnte es auch 1823 sein: Denn am 23. Juni 1823 wurde schließlich am Hauptplatz die Statue des Felix von Cantalice geweiht, unter dessen Schutz die neue Siedlung stand. Eine der ursprünglichen Inschriften, in Latein abgefasst, lautete: Heiliger Felix, bitte bei Gott, daß die Ubel von den Einwohnern dieses Ortes abgewendet werden und daß ihnen alles zum Guten gereiche (Übersetzung).

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Hl. Felix von Cantalice in Windigsteig, 1738 (© Elisabeth Vavra)
Dem hl. Felix von Cantalice – leicht zu identifizieren an der Kapuzinerkutte und dem Bettelsack, den er in Händen hält oder über die Schulter geworfen trägt – begegnet man nicht so oft in Niederösterreich, deshalb hier ein kurzer Blick auf sein Leben: 1515 erblickte er in Cantalice (Provinz Rieti, Latium) als Sohn armer Bauern das Licht der Welt. Mit neun Jahren musste er bereits in den Dienst als Hirtenjunge treten. 1543 trat er in den Kapuzinerorden ein und legte zwei Jahre später seine Gelübde ab. 40 Jahre lang war er für das Kloster an der Kirche San Nicola de Portiis in Rom als Almosensammler tätig. Der Analphabet trug durch sein gottesfürchtiges Leben, den liebevollen Umgang mit den Mitmenschen viel zur Stabilisierung des noch neuen Ordens bei. In zahlreichen Visionen erschien ihm die Jungfrau Maria; mit seherischer Gabe begabt, sah er die Wahl Papst Pius V. voraus und den Sieg über die Osmanen in der Seeschlacht von Lepanto. Zu seinem Freundeskreis zählten u.a. Papst Sixtus V., Karl Borromäus und Philipp Neri. Hochverehrt verstarb er am 18. Mai 1587 in Rom. Bereits ein Jahr später wurde sein Heiligsprechungsprozess eingeleitet; 1625 erfolgte seine Seligsprechung, 1712 seine Heiligsprechung. Er war der erste Heilige des Kapuzinerordens und auch der meist verehrte. Wenige Jahre nach seiner Kanonisation entstanden die ersten Denkmäler in Niederösterreich, so 1728 in Allentsteig, um 1730 in Schwarzenau und Mühlbach am Manhartsberg, 1738 in Windigsteig und Großhaselbach. In Felixdorf erinnert die Statue an den Namenspatron des Siedlungsgründers Felix Mießl.

Die Gründung eines Kolonistendorfs

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Porträt des Wiener Neustädter Bürgermeisters Felix Mießl (1778–1861) (© Museum St. Peter an der Sperr, Wiener Neustadt)

Felix Mießl wurde 1778 in eine Familie hineingeboren, die ein gutes Händchen für Verwaltungsangelegenheiten hatte. Sein Vater war der Bürgermeister von Horní Blatná (Bergstadt Platten) im böhmischen Erzgebirge, sein Onkel Bergrichter ebendort. Seine Studien absolvierte er in Wien, wo er 1801 in den Dienst des Grundbuchamtes eintrat. 1807 wechselte er zur niederösterreichischen Staatsgüteradministration. Zwei Jahre später wurde er Verwalter der Herrschaft Mariazell in Österreich (=Klein-Mariazell) und 1810 der Herrschaft Neustadt. Nach dem Wiener Kongress erfolgte 1816 durch Kaiser Franz I. seine Ernennung zum Bürgermeister von Wiener Neustadt. Aufgrund seiner Verdienste um den Wiederaufbau von Wiener Neustadt nach dem verheerenden Großbrand von 1834 und der Gründung von Felixdorf erhob ihn Kaiser Ferdinand I. 1836 in den erblichen Adelsstand mit dem Zusatz Edler von Treuenstadt.

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Adelsdiplom für Felix Mießl (© Stadtarchiv Wiener Neustadt)

Zu den ersten Plänen des neu im Amt stehenden Bürgermeisters Felix Mießl gehörte die Gründung eines Kolonistendorfs auf dem Heidegebiet nördlich von Wiener Neustadt. Die Heidegründe waren zu dieser Zeit nahezu unbebaut. Einzig eine Mühle stand seit 1811 nächst Sollenau am Kalten Gang, einem Seitenarm der Piesting. Die Mühle und das Grundstück erhielten nach der Parzellierung die Bezeichnung Felixdorf Nr. 1. Für die neue Siedlung standen 294 Joch (1 Joch = 0,575 ha) und 1287 Quadratklafter (1 Quadratklafter = 3,5979 m²) zur Verfügung. Aus dem Jahr 1821 stammt der Situations-Plan zur Anlage und Grundvertheilung der neuen Colonie Felixdorf an der Gutensteiner Strasse. Wie bei der 1763 gegründeten Ortschaft Theresienfeld sah man eine regelmäßige Anlage der Siedlung mit Höfen von 15 Joch vor. Es ergaben sich so 18 solcher Grundstücke unter Einbeziehung der  bereits bestehenden Mühle. Neben den 15-Joch-Lehen gab es noch nördlich der Gutensteiner Straße vier Grundstücke für Kleinhäusler. Am westlichen Ortsrand gab es noch freie Fläche für weitere Höfe. Im Licitationsverfahren erfolgte bereits am 20. August 1821 der Verkauf der 17 Höfe und der vier Kleinhäuser. Den Siedler*innen wurde eine Steuerfreiheit auf 20 Jahre gewährt. Die Siedlung, die zu Ehren ihres Gründers den Namen Felixdorf tragen durfte, entwickelte sich entlang der heutigen Hauptstraße.

Bereits im Situationsplan war die Errichtung von Wasserwerken vorgesehen, um die Wasserkraft der Piesting zu nutzen. Damit wurde der Weg Richtung Ansiedlung von Industriebetrieben eingeschlagen. Der Wiener Johann Rametter errichtete 1822 auf einem der Viertellehen eine Knopffabrik. Der Abkehr von einer rein landwirtschaftlichen Ausrichtung verdankte die Siedlung ihr rasches Wachstum: Zehn Jahre nach der Gründung war die Siedlung schon kräftig angewachsen, wie die Beschreibung von Felixdorf bei Schweickhardt zeigt: Ein Dorf von 26 Häusern, zunächst Solenau und Theresienfeld. […] Der Ort ist provisorisch nach Theresienfeld eingepfarrt und hat eine eigene Schule in loco. […] Es werden gegenwärtig hier 46 Familien (und zwar 149 männliche, 124 weibliche Personen und 46 schulfähige Kinder) – mit einem Viehstad von 6 ochsen und 14 Kühen gezählt. […] Daselbst befindet sich eine Mahlmühle am Piestingbache und eine Baumwollengespinnst=Fabrik. Eine zweite Baumwollengespinnst=Fabrik von größerem Umfange ist eben im Bau begriffen.

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Ausschnitt aus dem Aufnahmeblatt von 1873 (© Stadtarchiv Wiener Neustadt)

Das „Herzstück“ einer Siedlung

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Hölzernes Salettl mit Glockenturm auf dem Hauptplatz, Ende 19. Jh. errichtet (© Elisabeth Vavra)

Was braucht eine neue Siedlung? Zunächst Siedler:innen, dann eine funktionierende Verwaltung, eine Schule, eine Kirche und ein Wirtshaus. Die dafür notwendigen Gebäude fanden sich hier in Felixdorf entlang der Hauptstraße und in der von dieser abzweigenden Schulstraße (ehemals Theresienfelder Straße) aufgereiht. Und hier beim Denkmal des hl. Felix von Cantalice beginnt auch unser Spaziergang durch die Geschichte von Felixdorf.

Verwaltungstechnisch unterstand Felixdorf als Katastralgemeine zunächst dem Magistrat von Wiener Neustadt. Bis zur Aufhebung der Grundherrschaft wurde der Ort von einem Ortsrichter geleitet, nach 1848/50 durch einen Polizei-Commisär. 1889 wurde Felixdorf dann selbständig. Der erste Bürgermeister war Franz Sedlmayer, der dieses Amt bis 1917 ausübte. Die Amtsräume befanden sich im Haus Nr. 34 an der Hauptstraße gelegen. Mit dem Wachstum der Siedlung – 1869 lebten in Felixdorf bereits 899 Einwohner:innen, bei der Volkszählung 1890 bereits 2075 – wurden die Räumlichkeiten zu klein. Bürgermeister Sedlmayer stellte der Gemeinde kostenlos eine Parzelle an der Hauptstraße (heute Nr. 31) für den Bau eines Rathauses zur Verfügung, der 1900 durch Baumeister Wenzel Wegwart durchgeführt wurde. Wegwart war zu seiner Zeit kein Unbekannter: Er zeichnete u.a. für den Bau der Margaretenkirche in Berndorf verantwortlich.

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Das Rathaus, Hauptstraße 31, 1900 nach Plänen von Wenzel Wegwart erbaut (© Elisabeth Vavra)

Schon 1823 wurde in Felixdorf ausgeschenkt: Georg und Constantia Fugger, die das  Halblehen Felixdorf Nr. 16 (heute Hauptstraße 35–37 – Die heutigen Straßennamen wurden erst 1922 festgelegt) erworben hatten, errichteten auf diesem Grundstück einen Einkehrgasthof. Nach dem frühen Tod Georg Fuggers heiratete seine Witwe 1826 Ferdinand Sedlmayer, deren beider Sohn in der Folge zum „Ortskaiser“ aufstieg. Bis zur Jahrhundertwende gehörten ihm 12 der 26 Urhäuser, in denen sich drei Gasthöfe (z.B. Weißes Lamm und Goldener Adler), alle in günstiger Lage an der Hauptstraße, befanden.

Kirche und Schule bekam der Ort erst zu einem späteren Zeitpunkt. Zunächst war die Siedlung in Theresienfeld eingepfarrt. Der Kampf um eine eigene Kirche dauerte lang: Bis 1923 blieb der Ort ohne katholische Kirche, äußerst ungewöhnlich für eine Gemeinde, die zu diesem Zeitpunkt bereits um die 4000 Einwohner:innen zählte. 1898 hatte sich in Felixdorf ein Kirchenbau-Verein etabliert. Um den Wunsch nach einer eigenen Kirche Nachdruck zu verleihen, hielt man den ersten katholischen Gottesdienst 1905 im Turnsaal der Volksschule ab. Nach jahrzehntelangen Bemühungen des Kirchenbauvereins kam es am 29. Juli 1923 endlich zur Grundsteinlegung für einen Kirchenbau. Bereits am 14. Oktober konnte die Weihe standfinden: Denn man hatte die Militärkapelle der Munitionsfabrik Blumau erworben, den Bau sorgfältig abgetragen und in Felixdorf wieder aufgebaut. 1939 wurde Felixdorf dann eine eigenständige Pfarre. Am 18. Oktober 1958 fand die Grundsteinlegung für den heutigen Kirchenbau statt. Der alte im neugotischen Stil errichtete Bau wurde bis 1959 weiter genutzt. Erst am 2. Februar fand die letzte hl. Messe statt; dann wurde der alte Bau abgetragen, um die Fertigstellung des Neubaus zu ermöglichen. 

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Die neue Pfarrkirche in der Schulstraße, nach Plänen von Kurt Bartak 1958-1960 errichtet (© Elisabeth Vavra)

Auch der Schulunterricht unterstand zunächst der Pfarre Theresienfeld. Felixdorf hatte einen entsprechenden Schulraum zur Verfügung zu stellen und für dessen Ausstattung und Beheizung zu sorgen. Für 1832 ist der erste namentlich bekannte Lehrer belegt, der in einem Raum seiner Wohnung in der Mohr-Fabrik den Unterricht abhielt. Die größeren Kinder erhielten von 8 bis 11 Uhr, die kleineren von 13 bis 15 Uhr Unterricht. 1837 wurde die einklassige Schule selbständig, die erste öffentliche Prüfung fand am 17. Oktober statt. Da es nicht einmal ausreichend Sitzplätze für alle Schüler:innen gab und die Schülerzahl ständig anstieg, wurde der Neubau einer Schule immer dringender. 1848 wurde der Bau auf einem Grundstück an der Hauptstraße (heute Nr. 26) errichtet, ermöglicht u.a. durch Sach- und Geldspenden aus der Bevölkerung. Wieder verfügte die Schule allerdings nur über ein Schulzimmer. 1875 erfolgte eine Erweiterung um einen Schulraum, 1890 um einen Turnsaal. Endgültig gelöst wurde das Problem erst durch den im Dezember 1913 fertiggestellten Neubau in der heutigen Schulstraße. Diese Schule folgte nun den neuesten Standards und war sogar mit einer Zentralheizung ausgestattet.

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Die ehem. Haupt- und Volksschule, heute Neue Mittelschule, in der Schulstraße, 1913 nach Plänen von Wenzel Wegwarth errichtet (© Elisabeth Vavra)

Im Gedenken an die Opfer des Judenlagers in der Engel-Mühle

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Der Gedenkstein für die jüdischen Opfer des Lagers in der Engel-Mühle, errichtet aus Steinen der Engel-Mühle auf dem Felixdorfer Friedhof (© Elisabeth Vavra)

Folgt man der Schulstraße noch einige hundert Meter weiter, gelangt man über die Neugasse zum Friedhof von Felixdorf. Hier wurde ein Denkmal im Gedenken an die Opfer des Lagers in der Engel-Mühle errichtet.

Ab Mai 1944 hatte man mit der Deportation der jüdischen Bevölkerung aus Ungarn Richtung Auschwitz begonnen. Von Reichsverweser Miklós Horthy untersagt, lief die Maschinerie nach der Machtübernahme durch die Pfeilkreuzler Ende 1944 wieder an. Ein Teil der Deportierten wurde zum Bau des sog. Südostwalls eingesetzt. Dieser sollte die Truppen der Roten Armee aufhalten. Ein „Erholungslager“ für ungarische Zwangsarbeiter:innen wurde in der stillgelegten, von Bomben schwer getroffenen Engelmühle eingerichtet. Am 5. Jänner 1945 rollte ein Zug mit 2.087 großteils männlichen ungarischen Juden in Felixdorf ein, die schon seit vier Tagen ohne Nahrung und Trinken in den Güterwägen unterwegs waren. Bei der Ankunft in Felixdorf waren 68 Häftlinge verstorben. In der Engelmühle gab es keine Fenster, keine Türen, keine Heizmöglichkeiten, nicht einmal Stroh auf den Böden. In den kommenden Wochen breitete sich im Lager eine Flecktyphus-Epidemie aus. Bis zum 24. Februar waren 1.812 Insassen verstorben. Das Lager wurde am 2. April 1945 von der Roten Armee befreit. Nur 222 hatten überlebt. Das außerhalb des Friedhofs angelegte Massengrab wurde in der Folge zu einem kleinen jüdischen Friedhof umgewandelt.

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Gedenktafeln für jüdische Opfer des Lagers in der Engel-Mühle, Felixdorfer Friedhof (© Elisabeth Vavra)

Industriestandort Felixdorf

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Das Areal der ehemaligen Munitions- und Pulverfabrik, Stampfgasse/Badgasse (© Elisabeth Vavra)

Will man das alte Industrieviertel erkunden, so folgt man der Hauptstraße vom Denkmal des hl. Felix etwa 500 m in südwestlicher Richtung; dann nimmt man die Alleestraße, Richtung Bahnstraße. Das Haus Alleegasse 20 erinnert an einen der ältesten Betriebe von Felixdorf: die Pulverfabrik, die das Areal Stampfgasse/Badgasse/Mayrgasse umfasste. Heute ist hier ein familienfreundliches Wohnviertel entstanden. Bereits 1756 hatte man an der Piesting zwei Pulvermühlen errichtet. Die Bezeichnung „Stampfgasse“ erinnert an den Erzeugungsvorgang: Das Pulver wurde unter Zugabe von Wasser in Stampfwerken hergestellt. Dann wurde es auf der Dörre getrocknet und in Fässer abgefüllt. Sehr oft kam es dabei zu schweren Explosionen. Aus der unteren Pulverstampfe entwickelte sich in der Folge einer der weltweit größten Rüstungsbetriebe. Angestoßen wurde die Entwicklung durch den 1893 erfolgten Eintritt des Wiener Fabrikanten Georg Roth in den Betrieb, der seit 1867 in seinen anderen Fabriken Munition für Hinterladergewehre erzeugte. Im Felixdorfer Werk wurden neben Sprengstoff wie Ammonsalpeter und Ammon-Schießpulver Sprengkapseln, Sprengladungen, Minen, Torpedos, Wurf- und Handgranaten produziert. Ab 1870 wurde die Munition für das Werndl-Gewehr hergestellt. Der Großteil der gefährlichen Arbeit lag in Frauenhänden.

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Schornstein der ehem. Felixdorfer Weberei und Appretur AG (© Elisabeth Vavra)

Folgt man der die Alleestraße querende Bahnstraße in nordöstlicher Richtung, so gelangt man in das Felixdorfer „Textilviertel“. Hier, auf dem Areal zwischen Bahnstraße und Piesting entstanden die großen Textilbetriebe. Auf dem Gelände – heute Bahnstraße 12 – errichtete der Wiener Neustädter Seidenfabrikant Carl Bräunlich 1831 eine Baumwollspinnerei mit 10.000 Spindeln. Das Fabrikgebäude beherbergte die Produktionsstätten sowie die Wohn- und Schlafräume für die Belegschaft. 1893 vereinigte sich die Bräunlich mit der 1869 gegründeten Felixdorfer Weberei & Appretur AG. Auf dem Grundstück Bahnstraße 18 hatte Johann Rametter bereits 1822 den ältesten Industriebetrieb gegründet: eine Knopffabrik. Einige Jahre später wurde die Produktion auf eine Baumwollspinnerei umgestellt. Heute erinnern die Gebäude des sog. Mohr-Hofes an die alte Produktionsstätte.

Der größte Industriebetrieb entstand 1868/69 mit der Gründung der Felixdorfer Weberei & Appretur AG. Man plante die Errichtung einer Weberei mit 500 Webstühlen, die 10 Millionen Meter Stoff erzeugen sollten. Neben den Fabrikgebäuden – zwei einander gegenüberliegende Hallenkomplexe für die Weberei und die Appretur sowie das Kesselhaus – wurden auch Wohnhäuser für die Direktoren, die Beamten und die Arbeiterschaft (siehe unten) errichtet. Für die Planung zog man den Wiener Architekt Carl Tietz, der u.a. das Grand-Hotel an der Wiener Ringstraße errichtet hatte, heran. Um einen Betrieb in dieser Größe überhaupt möglich zu machen, musste man Arbeitskräfte in Böhmen und Mähren anwerben. 1912 erfolgte ein Zusammenschluss mit der Pottendorfer Spinnerei. In den 20er Jahren waren in dem Betrieb 1.300 Arbeiter:innen beschäftigt. Die Linz Textil AG erwarb 1982 die Spinnerei Felixdorf, die mit der Pottendorfer Spinnerei in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten war. 2005 schloss die Linz Textil AG das Werk in Felixdorf, nachdem die Produktion in Billiglohnländer ausgelagert worden war.

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Gebäudekomplex der ehem. Felixdorfer Weberei und Appretur AG, 1868/69 von Carl Tietz errichtet (© Elisabeth Vavra)

Wohnraum für die Arbeitsmigrant:innen

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Arbeiterwohnsiedlung der Felixdorfer Weberei und Appretur, Arbeitergasse/Baugasse, errichtet ab 1869 von Carl Tietz und Franz Sommleitner (© Elisabeth Vavra)

Um Wohnraum für die benötigten Arbeitskräfte zu schaffen, entstanden zahlreiche Wohnbauten in Felixdorf, die ersten bereits 1844 für Arbeiter:innen der Bräunlich-Spinnerei. Genutzt wurden dafür Baugründe in unmittelbarer Nähe zu den Fabriken, etwa auf dem Areal zwischen Bahnstraße und Hauptstraße. Die Felixdorfer Weberei und Appretur AG errichtete ab 1869 eine aus neun Hausblöcken bestehende Wohnanlage. Der Bau, ein Teil der im Volksmund auch als Tschechenring titulierten Wohnanlage, verfügte über 72 Klein- und 42 Dachwohnungen. Die Wohnungen umfassten Zimmer und Küche. Die Gebäude waren allerdings nicht unterkellert. Zwischen den Häusergruppen errichtete man Schuppenzeilen als Lagerräume. Heute steht die Anlage unter Denkmalschutz. Ab 1922 ließ die Weberei eine weitere Arbeiterwohnsiedlung – den Felixhof – in der heutigen Bräunlichgasse errichten.

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Arbeiterwohnsiedlung Felixhof, Bräunlichgasse, errichtet 1922–24 (© Elisabeth Vavra)

Bahnknotenpunkt Felixdorf

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Die ehemalige K.u.k. Artillerie-Kaserne für die Schießversuchscommission, Ecke Bahnstraße/Mühlstraße, 1902 fertiggestellt (© Elisabeth Vavra)

Folgt man der Bahnstraße Richtung Nordosten, gelangt man schließlich zu ihrem Ausgangspunkt, den Bahnhof. An der Ecke zur Mühlstraße steht das markante Gebäude der 1902 fertiggestellten ehemaligen K.u.k. Artillerie-Kaserne, im Volksmund die Kaserne mit dem abgestumpften Eck genannt. Der 1902 kollaudierte Bau hatte die alte Kaserne abgelöst, die man hier 1862 errichtet hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden die Militärangehörigen in Privatquartieren in Felixdorf und Sollenau untergebracht. Unter diesen zwangsweisen Einquartierungen hatte die Bevölkerung seit der Einrichtung der Schießversuchskommission am Großmittel zu leiden gehabt. 1862 hatte man, um Geld zu sparen, eine Kaserne in Fachwerksbauweise errichtet. 100 bis 120 Mann mit ihren Pferden konnten hier untergebracht werden. Der billigen Bauweise waren immer wieder auftretende Schäden geschuldet, so dass man sich 1899 zu einem Neubau in Massivbauweise entschloss. Im Nordflügel wurden die Verwaltungsräume und die Wohnungen der Offiziere untergebracht, im Westflügel die Mannschaft. Felixdorf hatte den Zuschlag für den Kasernenbau schon 1862 aufgrund seiner Anbindung an die Südbahn erhalten.

1838 hatte Georg Simon von Sina die Erlaubnis zum Bau einer Bahn von Wien Richtung Süden erhalten. Ziel war es, eine Bahnverbindung zur Adria zu schaffen. Am 16. Mai 1841 konnte man bereits das Teilstück Baden-Wiener Neustadt eröffnen; es folgten die Abschnitte Baden-Mödling, Mödling-Wien und schließlich 1842 Wiener Neustadt-Gloggnitz. Felixdorf war damit seit 1841 ans Bahnnetz angeschlossen und bildete in der Folge einen wichtigen Knotenpunkt im wachsenden Eisenbahnnetz (u.a. 1881 Aspangbahn – geplant als Wien-Saloniki-Bahn, 1889 Militärschleppbahn) Eine der Lokomotiven der Wien-Raaber-Bahn trug sogar den Namen „Felixdorf“.

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Der Bahnhof in Felixdorf (© Elisabeth Vavra)

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Autorin: Prof.in Dr.in Elisabeth Vavra

Zur Geschichte von Felixdorf:

Albert G. Absenger, 175 Jahre Felixdorf 1822–1997: eine chronikartige Geschichtsdarstellung, Felixdorf 1997.
Marktgemeinde Felixdorf (Hg.), 200 Jahre Felixdorf, Felixdorf 2022.
Franz Xaver Joseph Schweickhardt, Darstellung des Erzherzogthums Österreich unter der Ens, Viertel unterm Wienerwald, Bd. 1, Wien 1832, S. 301f.
Gerhard A. Stadler, Das industrielle Erbe Niederösterreich. Geschichte – Technik – Architektur, Wien-Köln-Weimar 2006, S. 171–179.
Franz Stundner (wiss. Leitung), Der Bezirk Wiener Neustadt und seine Gemeinden, Wiener Neustadt 1992.

 

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