„Verschwundenes Waldviertel“ – Buchbesprechung

Buchcover

Wie leer ist es hier, vertan alles Streben*

Sie sind wie funkelnde Sterne vergangener Tage, die wir noch am Nachthimmel anstaunen, deren Leuchtkraft aber seit undenklichen Zeiten erloschen ist. Dennoch, der morbide Charme des Vergänglichen lässt manch nostalgisches Herz höherschlagen, es wohnt diesen „Dokumenten der Zeitgeschichte“ auf „ganz eigene Art auch eine gewisse Schönheit“ inne. Auch wenn Industrie-Ruinen längst nicht die gleichen romantischen Regungen zu wecken vermögen wie künstliche Burgruinen.

Diesen Zeugen der Vergangenheit, deren Gegenwart einst Zukunft war oder prosaischer: den „Zeichen des Strukturwandels, der Infrastruktur, der demografischen Entwicklung einer strukturschwachen Region“, widmen sich die Autoren des vorliegenden Bildbands.

Manch Verschwundenem wird niemand eine Träne nachweinen, etwa dem Eisernen Vorhang an der Nordgrenze des Viertels. Womöglich begleitet indes die Empfindung des Vergeblichen die letzten Tage des Wirtshauses, den ungeöffneten Rollbalken des letzten Greißlers im Ort, das für alle Zeit geschlossene Kino, den erbärmlichen Zustand manch Wohn- und Bauernhauses. Verstärkt wird dieses Empfinden durch die Bildsprache János Kalmárs: gottverlassene Dörfer, menschenleere Straßen, Relikte der Zivilisation. Betrachtende sind mit sich und dem „Verschwundenen“ allein, das schafft eine intime, aber gleichzeitig distanzierte und dichte Atmosphäre von großer Eindringlichkeit, beinahe ein berührendes Gefühl der Einsamkeit.

Es folgt hier nun ein kleiner Streifzug durch 134 Seiten eines Buches, das „das Bild des Mystischen und Geheimnisvollen widerlegen“ will. Den Beginn macht, was Leib und Seele zusammenhält, das Wirtshaus, das Hotel, die Disco. Deren Fassaden haben schon bessere Tage gesehen, die einst stolze Aufschrift ist oft nur mehr zu erahnen, mancher Buchstabe, der sich gelöst hat, wird wohl nie mehr ersetzt werden. Die Bandbreite der Opfer des „Strukturwandels“ reicht vom Kultlokal Kroko-Bar Gramanitsch im hohen Norden bis zur Hotelruine Blauensteiner in Thunau am Kamp im Süden.

Hotel Blauensteiner (Bezirk Krems)
S.23, Hotel Blauensteiner (Bezirk Krems)

Gleich im Anschluss sind einige Seiten der Kinolandschaft gewidmet, einer verödeten Landschaft. Für die meisten Waldviertler Lichtspielhäuser ist, wie auch anderswo, die letzte Rolle abgespielt, eine neue in nur selten Fällen gefunden. Blende.

Er war Umschlagplatz für Gemischtwaren aller Art und Dorftratsch jeglichen Inhalts, als kommunale Informationsdrehscheibe Gerüchteredaktion, ausgelagerter Gendarmerieposten und Psychosozialer Dienst in einem: der Greißler. Mit den Anforderungen und Ansprüchen des sparsamen „Erlebniskonsumenten“ konnten die wenigsten Schritt halten. Übrig blieben verlassene Geschäfte und vom Zahn der Zeit angenagte und verbrauchte Portale, Auslagen, in denen nichts mehr ausgelegt ist, Warenhauskulissen ohne Zweck und Nutzen, Zeugen einer Leerstelle, die nicht gefüllt werden kann. Aufmerksam Beobachtende entdecken in deren Umfeld häufig das gelbe Postkastl, vielerorts längst zur Antiquität heruntergestuft, hier scheint es der modernen Welt des Glasfaserkabels und der Elektronikpost noch zu trotzen.

Fichtenbauer
S. 35, Fleischhauer/Selcher Fichtenbauer, Aalfang (Bezirk Gmünd)

 

Die im Volkslied besungene Mühle am rauschenden Bach hat aufgehört zu klappern, „ihre Räder sind zum Sinnbild für den Stillstand geworden“. Einige wenige Betreiber haben dank beizeiten umgesetzter, innovativer Ideen deren Bestand bis in unsere Tage verlängert.

Mit dem Müller sind auch andere Gewerbetreibende nahezu ausgestorben, Unternehmer, die nicht selten Originale waren. Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit haben Originale ausgedient, ihre Aura ist ohne Ausstrahlung, ihr Zauber unwirksam. Um deinen Schmäh kann ich mir nichts kaufen, sagen die Leute und kaufen anderswo.

 

 

Steininger
S. 59, Landmaschinen Steininger, Eggenburg (Bezirk Horn)

 

Die Textil- und Glasindustrie brachte Arbeit und Wohlstand ins Waldviertel, manche Mühle wurde zur Fabrik umfunktioniert, der Zwischenstufe „Niedriglohn-Peripherie“ folgten „Konkurse, Übernahmen, Stilllegungen“, für die Menschen bedeutete es „Kurzarbeit, Umschulung, Arbeitslosigkeit, Pendeln, Abwanderung“.  Was als Stabilität geschätzt wurde, hat Zeit angesetzt, der Zeitgeist hat alles überrannt.

 

 

 

 

Kohlbach
S. 71, Langschlag (Bezirk Zwettl)

„1896 [im Buch ist die Jahreszahl verdreht] übernahm der Wiener Unternehmer Heinrich Krätschmer die stillgelegte Papierfabrik in Kehrbach. Bis 1934 wurden in dem Gebäude gedrechselte Holzwaren hergestellt.“ Heute wird es wohl ein reiches Biotop der Artenvielfalt sein.

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, wobei, es kommt aufs Bild an und auf die Worte. Jedenfalls überschlage ich den Text über die Ab- und Zuwanderungsbilanz, die „demographischen Entwicklung“ und damit auch gleich das Zitat des Regionalberaters Wallenberger, der appelliert, mit dem Jammern aufzuhören und tätig zu werden. Ich beuge mich und lasse ein Bild sprechen.

 

Groß-Gerungs
S.101, Groß Gerungs (Bezirk Zwettl)

 

 

Beim Anschauungsmaterial auf dieser und zahlreichen weiteren Seiten kommen vor allem jene auf ihre Kosten, denen der Verfall gar nicht weit genug fortgeschritten sein kann: Abrissfirmeninhaber, Immobilienspekulanten, Schubraupenfahrer und wer oder was sonst noch liebend gern morsche Gemäuer in Schuttkegel verwandelt.                                                                   

Dem Truppenübungsplatz Allentsteig, angelegt in der Zeit des Nationalsozialismus im Herzen des Waldviertels und den 42 Dörfern, den Wüstungen rund um Döllersheim, ist ein kurzer Abschnitt gewidmet und den Feuerwehrhäusern. Bei den Feuerwehren blickt das Waldviertel in eine rosige Zukunft. Hier scheint die „demografische Entwicklung“ im Lot, der „Strukturwandel“ aufgehalten, gelöscht.

Schließlich die Eisenbahn, ein ganz spezielles Kapitel im Waldviertel. Vom Wirtschaftsaufschwung an der Eisenbahnstrecke aufgeschreckt, entstanden Nebenbahnen, die bald auch nach Böhmen führten. Die einst überaus bedeutsame Franz-Josefs-Bahn verband Wien mit Prag. Nach 1945 war es mit der grenzüberschreitenden Verbindung vorbei, der Vorhang eisern verschlossen, der Verkehr zusehends individual, die Kosten nicht deckend.

Geblieben sind Nostalgiefahrten mit Dampflokomotiven zu hohen Feiertagen und Radwege für Sommerfrischler auf der einstigen Schienentrasse.

Bahnhof
S. 125, Der stillgelegte Bahnhof Martinsberg-Gutenbrunn

 

Der stillgelegte Bahnhof Martinsberg-Gutenbrunn vermittelt ein wenig den Eindruck eines Wild-West-Bahnhofs in der Wüste von Arizona, ohne Geleise, nur der Schnee bremst den abschweifenden Gedanken an die amerikanische Pionierzeit.

 

Das letzte Kapitel ist der Grenze gewidmet. Wobei das letzte Kapitel in der Serie der Verschwundenen Viertel noch nicht geschrieben ist. Dem Vernehmen nach folgt das Mostviertel.

Schauen Sie sich das an, lesen Sie selbst!

 

János Kalmár, Reinhard Linke, Christoph Mayer: Verschwundenes Waldviertel. Über Greißler und Wirtshäuser, Textilfabriken und Mühlen, Kinos und Bahnhöfe sowie Grenzen, die es nicht mehr gibt – Edition Winkler-Hermaden (Schleinbach) 2020

                                                 

Autoren (v.l.n.r.) Mayer, Winkler-Hermaden, Kalmár, Linke
Autoren (v.l.n.r.) Mayer, Winkler-Hermaden, Kalmár, Linke
Die Autoren:

János Kalmár, *1937, freier Fotograf in Wien, Bildautor zahlreicher Bildbände, Schwerpunkte: Kulturgeschichte, Landschafts- und Städteporträts, Architektur und Menschenbilder

Dr. Reinhard Linke, *1959, Journalist beim ORF Niederösterreich, Autor (Kultur und Geschichte) sowie seit 2010 Programmkurator der WALDVIERTEL AKADEMIE

Christoph Mayer MAS, *1985, Studium Kulturmanagement in Wien, diplomierter Eventmanager und 2008 bis 2020 Geschäftsführer der WALDVIERTEL AKADEMIE

 

                                        

Fotos: János Kalmár

Text: Gerhard Hintringer
*
aus einem Gedicht von Karl Kraus

 

Blog-Hinweise auf verwandte Themen:

2015 ist dieser Beitrag zum literarischen Waldviertel am Museumsblog erschienen: https://www.museumnoe.at/de/das-museum/blog/im-wald-wackeln-die-steine

Aufschluss über längst vergangene Tage des Bundeslands gibt der Bildband „Blick ins Land“, SW-Fotografien von Lothar Machura und Augustin Meisinger aus der Naturkundesammlung des Landesmuseums Niederösterreich, den Erich Steiner herausgegeben hat (Bibliothek der Provinz, 2013) Eine Beschreibung finden Sie hier:
https://www.museumnoe.at/de/das-museum/blog/ochsengespann-vor-heiligenkreuz

Lina Lux, die fliegende Fotografin aus Zwettl im Porträt (2014):
https://www.museumnoe.at/de/das-museum/blog/frauenportrait-10

Ausflugstipps ins südliche und nördliche Waldviertel (2020):
https://www.museumnoe.at/de/das-museum/blog/ausfluege-mit-geschichte-n-die-alte-poststrasse-luberegg-gutenbrunn

https://www.museumnoe.at/de/das-museum/blog/ausfluege-mit-geschichte-n-toedliche-romanze-und-wasserkraft-raabs-kollmitz

Sowie ein Museum ganz im Osten des Viertels (2020):
https://www.museumnoe.at/de/das-museum/blog/museum-zu-gast-das-krahuletz-museum

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