Fußball und Poesie. Literarische Randnotiz zu Masse, Macht, Mitropacup

Titelbild: Cover des Illustrierten Sportblatts, 20. August 1927; Foto: © ANNO/Österreichische Nationalbibliothek Wien

Der Mitropacup hat auch in der Literaturgeschichte eine zarte Spur hinterlassen.
Elias Canetti (1905-94, Nobelpreis 1981) berichtet in seiner Lebensgeschichte „Die Fackel im Ohr. 1921-31“:
„Eine schwache Viertelstunde Weges von meinem Zimmer, auf der anderen Talseite in Hütteldorf drüben, lag der Sportplatz Rapid, wo Fußball-Kämpfe ausgetragen wurden. An Feiertagen strömten große Menschenmengen hin […] Ich hatte wenig darauf geachtet, da mich Fußball nicht interessierte.“ Im Frühjahr 1927 bezieht er sein neues Quartier in der Hietzinger Hagenberggasse 47, hier verfasst er seine Dissertation in Chemie, hier entsteht der Roman „Die Blendung“, die Vermieterin dient ihm als Vorbild für die Figur der Haushälterin Therese.

Mitropacup_Literatur
Abb. 1: Am Cover des Illustrierten Sportblatts vom 20. August 1927 ist eine Szene aus dem Spiel Rapid – Hajduk Split abgebildet. „Der jugendliche Tormann Gazzari I. Hajduks klärt eine brenzliche Situation. Luef kommt zu spät.“ © ANNO/Österreichische Nationalbibliothek Wien
„An einem Sonntag nach dem 15. Juli [1927] [...] hörte ich plötzlich den Aufschrei der Massen.“ Er erinnert sich der Pfui-Rufe der aufgebrachten Menschen angesichts der Schüsse beim Justizpalastbrand, den er selbst miterlebt hat, und denkt an Feuer. „Doch da war kein Feuer, in der Sonne glänzte die goldene Kuppel der Kirche vom Steinhof. […] Das musste vom Sportplatz kommen.“ Später entging ihm „kein Laut vom Rapid-Platz“ und er ist sich sicher, dass „diese Lokalität das Interesse an meinem eigentlichen Vorhaben wachhielt“. Das „Vorhaben“ entpuppt sich beiläufig als „Masse und Macht“ (1960), das Buch über ein faszinierendes wie beunruhigendes Phänomen.

So kam der SK Rapid in die Weltliteratur wie der Pontius ins Credo. Das Spiel, das Canettis „Vorhaben wachhielt“, war das Mitropacup-Viertelfinale am 14. August 1927 gegen Hajduk Split. Vor 18.000 Zuschauern endet die Partie auf der Pfarrwiese 8:1 (1:1) für die Wiener. Die Tore erzielen Hofmann (3), Wondrak, Wessely (2), Horvath, Luef. Im Finale unterliegt man Sparta Prag. Drei Jahre später holen die Hütteldorfer den Mitropacup-Pokal erstmals nach Österreich.

Sind Canettis Überlegungen zum Phänomen Masse speziell auf das System Fußball anwendbar? Die Sportart wird in „Masse und Macht“ nicht ausdrücklich angesprochen, die Begriffe Stürmer und Verteidiger hießen noch etwas weniger kriegerisch, ganz dem Ursprungsland verpflichtet, Flügel, Rechtsverbinder, rechter, linker Half, Centre-half und rechter und linker Back.

 

Was hat der Dichter dem Fußballmatch soziologisch abgelauscht?
Lassen wir ihn selbst sprechen: „Drei Monate wohne ich schon hier“, schreibt er in den Lebenserinnerungen, ohne auf den „Aufschrei der Masse“ geachtet zu haben. Aber: „Während der sechs Jahre, die ich dieses Zimmer bewohnte, versäumte ich keine Gelegenheit, diese Laute zu hören.“  „Ich wusste nicht, wer sie waren“, aber es wird ihm klar, dass die „Triumphrufe“ einem Tor galten und es zwei Massen waren, „was ich später als Doppel-Masse begriff.“ Die Grundpfeiler eines Fußballmatches, zwei Mannschaften, deren Ziel es ist, Tore zu schießen, was Jubel oder Enttäuschung nach sich zieht, sind ihm geläufig. Wer spielt, ihre Namen sind ihm hingegen egal, er „trachtete nicht, sie zu erfahren.“

Die „Doppel-Masse“ bringt uns nicht recht weiter, da geht es um Krieg, man müsste Sport schon als moderne Form des Krieges auffassen, wie dies Elfriede Jelinek tut. Darüber hinaus lässt sich in „Masse und Macht“ Fußballsport recht gut mitlesen. Etwa im „Umschlagen der Berührungsfurcht“, die im Aufgehen in der Masse, im Zuschauerraum, schwindet, die man in der „geschlossenen Masse“ als Gleicher unter Gleichen nicht mehr empfindet, in der man die Grenzen der Person förmlich überschreitet. Die „offene Masse“ tendiert zum grenzenlosen Wachstum, die geschlossene ist durch Begrenzung gekennzeichnet. Es wird nur eine gewisse Anzahl an Eintrittskarten für ein Spiel aufgelegt, es besteht aber die „Aussicht auf Wiederversammlung“.

Mitropacup_Literatur2
Abb. 2: Werke von Elias Canetti, Foto: © Gerhard Hintringer

Dem „Abfangen der Masse“ dienen „Zeremonien und Regeln“, Stadionbesucher kennen das, regelrechte Choreografien in den Fan-Zonen, das Regelwerk des Spiels, die Auslegung der Abseitsregel, die Schwere eines Fouls, der vermeintlich falsche Pfiff des Schiedsrichters.

„Lieber eine sichere Kirche voll von Gläubigen als die unsichere ganze Welt“: Canetti konnte nicht wissen, dass der SK Rapid dereinst als Religion definiert werden würde, zumindest als Religionsersatz, als Andachtsübung.
„In der Gleichmäßigkeit des Kirchenbesuchs, der vertrauten und genauen Wiederholung bestimmter Riten sichert man der Masse etwas wie ein gezähmtes Erlebnis ihrer selbst. Der Ablauf dieser Verrichtungen zu festgesetzten Zeiten wird zu einem Ersatz für Bedürfnisse härterer und heftigerer Art.“ Sieht auch Canetti den Sport als Kriegsersatz und hat er damit recht? Oder ist Sport gar eine moderne Form des Krieges, die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, wie Elfriede Jelinek meint?

Stets Justitia in Flammen vor Augen, kommt er zum Schluss: „Das eindrucksvollste von allen Mitteln der Zerstörung ist das Feuer“. Diese Erkenntnis erklärt womöglich die Liebe der Hooligans zu bengalischen Feuern, die sie mit oder ohne Canetti-Lektüre pflegen. Die Fackel in Canettis Ohr war Karl Kraus´ gleichnamige Zeitschrift „Die Fackel“.
Von „geschlossener Masse“ war die Rede, wir haben es hier sogar mit einer „zweifach geschlossenen“, wie sie die Arena darstellt, zu tun: kein ungehinderter Zustrom, festgelegte Zeit, das Versprechen der Erregung unter der Bedingung, dass sich die Masse nach innen entladen wird.

Kennzeichen der Masse ist ihr Rhythmus, der „ursprünglich ein Rhythmus der Füße“ ist. „Unsere modernen sportlichen Veranstaltungen sind zweckmäßiger. Die Zuschauer können sitzen […].  Sie haben die Freiheit ihrer Hände zum Klatschen“, nicht selten durch Trommeln verstärkt.
Nach 90 Minuten Spielzeit ist die Masse für den Zerfall, für das Auseinandergehen bestimmt. Aber: „Es ist nicht alles für immer zu Ende. Die Masse kann sich hier wirklich breitmachen; sich erst an den Eingängen stauen, dann auf den Sitzen stocken; auf allerhand Arten schreien, wenn der richtige Augenblick sich ergibt; und selbst wenn alles vorbei ist, auf künftige, ähnliche Gelegenheiten hoffen.“ Von der Couch aus sind die Vorzüge und Schattenseiten des Massenphänomens Fußball derzeit nur theoretisch fassbar, die Fußballfeldstudie muss auf eine unbestimmte Zukunft vertagt werden.
Im Text zur „Festmasse“ heißt es: „Viele Verbote und Trennungen sind aufgehoben, ganz ungewohnte Annäherungen werden erlaubt und begünstigt. Die Atmosphäre für den einzelnen ist eine der Lockerung und nicht der Entladung.“ Es wird uns ein Fest sein.

Wie Elias Canetti wohnt Elfriede Jelinek in Hörweite zu „Sankt Hanappi“; sie hat 1998 „Ein Sportstück“ vorgelegt. Die Nobelpreisträgerin (2004) hat ihren Canetti gelesen.

P.S. „Sankt Hanappi“: Das Gerhard-Hanappi-Stadion, ursprünglich Weststadion, 1981 benannt nach seinem Architekten, dem linken Außenverteidiger des SK Rapid Wien (1950-64, 333 Spiele, 114 Tore) und Rekordnationalspieler (93 Einsätze), wurde 2014/15 abgetragen, die neue Arena heißt jetzt „Allianz Stadion“.

Autor: Gerhard Hintringer

Literaturhinweise
Elias Canetti: Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921-31 (1980), zitiert nach Fischer-Taschenbuch (1982)
Elias Canetti: Masse und Macht (1960), zitiert nach Fischer-Taschenbuch (1992)

TIPP: Sonderausstellung im Haus der Geschichte
I wer´ narrisch! Das Jahrhundert des Sports
13. März 2021 bis 9. Jänner 2022

Blog-Nachlese: Der Mitropapokal und der Mitropacup

Mein Besuch

0 Einträge Eintrag

Voraussichtliche Besuchszeit

Liste senden