Geschichte

Erinnern für die Zukunft: Die Kremser Häftlingsmorde

Mehr als 400 Strafgefangene des Zuchthauses in Stein an der Donau verloren noch im April 1945, nur wenige Wochen vor dem endgültigen Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft, ihr Leben.
Prof. Dr. Elisabeth Vavra
Strafvollzugsanstalt Stein

Nach der Aufhebung des Redemptoristinnnenklosters in Stein erwarb der Staat 1850 die Klosteranlage und wandelte den Klosterbau in eine Haftanstalt um. 1870–73 wurde das „K.K. Österreichisches Zellengefängnis“ zu einem dreigeschossigen Gefangenenhaus ausgebaut, das Platz für etwa 1000 Strafgefangene bot. 1945 wurden an die 1850 Häftlinge im „Zuchthaus Stein“ – so die Bezeichnung seit 1938 – verwahrt. Die exakte Zahl ist unbekannt. In Krems selbst gab es noch die „Haftanstalt Krems“, ausgelegt für etwa 200 Haftplätze. Hier waren – im Gegensatz zu Stein – Männer und Frauen inhaftiert. Zur Kremser Haftanstalt gehörten noch zwei kleine Außenstellen in Hörfarth und Oberfucha. Die Sträflinge arbeiteten in den dort ansässigen Ziegeleien.

Die Häftlinge in Stein gehörten unterschiedlichen Nationalitäten an (vgl. Reder 2024). Der größte Teil – 828 – kam aus dem „Deutschen Reich“, waren also in Österreich oder Deutschland geboren; weitere große Gruppen waren Griechen (350), Südslawen (274) und Tschechen (189). Auch Italiener (93) und Franzosen (49) mussten ihre Haftstrafe in Stein absitzen. Interessant ist das Ergebnis der von Reder durchgeführten Analyse der Haftgründe. Fasst man die aus Gründen des Widerstandes begangenen Delikte zusammen, so kommt man mit 36% auf den höchsten Anteil. Hochverrat, Widerstand gegen die deutsche Besetzungsmacht in den besetzten Gebieten, Sabotage, wehrkraftzersetzendes Verhalten oder das bloße Hören ausländischer Rundfunksender – all dies konnte zu einer Inhaftierung in Stein führen. Aufgrund von militärisch-disziplinärer Verbrechen (etwa Fahnenflucht, Gehorsamsverweigerung, Feigheit vor dem Feind) saßen 10,5% der Sträflinge ein. Unter den „kriminellen“ Delikten dominierten Eigentumsdelikte mit 31,9 %, gefolgt von Gewaltverbrechen (7,3%) und Wirtschaftsvergehen (5,5%).  

Mit dem Zusammenbruch der Front im Westen und Osten und dem Näherrücken der alliierten Truppen stellte sich im Reichsjustizministerium Berlin die Frage, was mit den Insassen von gefährdeten Haftanstalten und Zuchthäusern geschehen sollte. Richtlinien zur Räumung der Justizanstalten wurden erlassen. Eine solche erreichte am 5. Februar 1945 auch Wien. Je nach Haftdauer und Vergehen sollten die Häftlinge unterschiedlich behandelt werden. Wer nur mehr eine kurze Strafe zu verbüßen hatte und von dem anzunehmen war, dass er sich „reibungslos in die Volksgemeinschaft eingliedern werde“, sollte entlassen werden. Ausdrücklich ausgenommen von solchen Entlassungen waren – unabhängig von der noch bestehenden Haftdauer – „Juden, Judenmischlinge und Zigeuner“, Personen mit „charakterlichen Abartigkeiten und Mängel“, „asoziale und staatspolitisch gefährliche Gefangene“ und wehrmachtgerichtlich Verurteilte mit Ausnahme solcher, die nur mehr einen kurzen Strafrest abzubüßen hatten. Die von der Haftentlassung ausgenommenen Häftlinge sollten in sichere Gebiete evakuiert werden. Konnte dies nicht mehr geschehen, so erteilte Berlin folgenden Befehl:

[…] die vorgenannten Elemente sind dagegen der Polizei zur Beseitigung zu überstellen oder, wenn auch dies nicht möglich, durch Erschießen unschädlich zu machen. Die Spuren der Unschädlichmachung sind sorgfältig zu beseitigen.
Zitat nach Reder, S. 235

Im März näherten sich, vom Osten und Südosten kommend, die Truppen der Roten Armee der Reichsgrenze. Der Südostwall, als Verteidigungslinie geplant, stellte kein nennenswertes Hindernis dar. Ende März 1945 überschritt die Rote Armee bei Klostermarienberg im Burgenland die Reichsgrenze; Anfang April gelang der Durchbruch bei Parndorf, Kittsee und Rohrau; zur gleichen Zeit erreichten Truppenteile den Wienerwald, nahmen am 3. April Baden ein und drangen weiter Richtung Alland vor. Ihr Ziel war es, Wien auch von Westen her einzuschließen. Die Gauleitung von Niederdonau und die Reichsstatthalterei Wien flohen am 3. April nach Krems, das einen Tag zuvor einen der schwersten Bombenangriffe erlebt hatte: Die US-Luftstreitkämpfe hatten das Bahnhofsviertel bombardiert und so die letzte noch funktionsfähige Bahnverbindung nach Wien zerstört.

Am 5. April wandte sich der an den Regierungspräsidenten Erich Gruber mit der Bitte um Bereitstellung von Transportmitteln zur Evakuierung des Zuchthauses Stein. Ein Transportbefehl wurde erteilt; die Räumung sollte per Bahn, Schiff oder im Fußmarsch erfolgen, aber es gab keine Transportmittel, weder Schiffe noch Waggons. Gemäß den von Berlin erlassenen Richtlinien erfolgte zeitgleich die erste Freilassung von 80 bis 100 „gewöhnlichen“ Häftlingen. In Stein waren inzwischen auch die Insassen der Haftanstalt Krems untergebracht und 20 griechische Häftlinge, die aus der Strafanstalt Göllersdorf überstellt worden waren. Am kommenden Morgen hatte sich an der prekären Situation nichts geändert. Die Lage war aussichtslos: Für eine rechtzeitige Evakuierung standen keine Transportmöglichkeiten zur Verfügung. Unter diesen Umständen drohte den meisten Häftlingen die Exekution. Der Anstaltsleiter Franz Kodré entschloss sich daher, alle Inhaftierten freizulassen. Da diese Aktion den Richtlinien des Reichsjustizministeriums und dem Transportbefehl des Regierungspräsidenten widersprach, musste sie schnellstens über die Bühne gehen. Es blieb keine Zeit für lange Vorbereitungen und auch keine Zeit für alle rund 1800 Häftlinge Entlassungspapiere auszustellen – ein Umstand, der sich später für viele verheerend auswirken sollte.

    In ihrer Ausgabe vom 2. Mai 1945 berichtete die Zeitung Neues Österreich – seit 23. April, also noch vor Kriegsende, von den Gründerparteien der Zweiten Republik, der ÖVP, der SPÖ und der KPÖ herausgegeben – über die Ereignisse des 6. April in der Strafanstalt Stein. Dem Artikel zugrunde lag der Bericht eines Betroffenen, der seit Ende 1944 in Stein inhaftiert war. Der ehemalige Direktor eines österreichischen Industriebetriebes schilderte in bewegten Worten die Stimmung in der Strafanstalt, als die Häftlinge von einer möglichen Freilassung erfuhren:

    In den ersten Tagen nach Ostern verbreitete sich in dem düsteren Bau der Strafanstalt in Stein mit Windeseile die Nachricht, daß wegen des Herannahens der Russen das Gebäude geräumt und seine Insassen verschleppt werden sollten. Eine ungeheure Aufregung bemächtigte sich unser, wußten wir doch, daß die Ausführung dieses Vorhabens den sicheren Tod bedeuten würde. Wie eine Erlösung empfanden wir es daher, als sich am Freitag, den 6. April, zu unserer grenzenlose Freude herausstellte, daß es den besonnenen Leuten der Anstaltsleitung gelungen sei, sich gegenüber den Nazi durchzusetzen und alles für unsere bedingungslose Freilassung vorbereitet sei. […]
    In wenigen Stunden war es so weit. Die Wärter kamen mit dem klirrenden Schlüsselbund, gingen von Zelle zu Zelle und, o Wonne, jede Tür wurde geöffnet, wir durften ungehindert hinaustreten und uns vollkommen frei bewegen; nirgends drohte ein Gewehrlauf oder ein Gitter. […] Im Kerkerhof lagen unsere armseligen Habseligkeiten; wir bildeten von den Gängen und Stiegen herunter eine lange Kette, so daß jeder auf den schnellsten Weg zu seinen Sachen kam. […] Jeder beschäftigte sich in Gedanken bereits mit seinem so lange entbehrten Zuhause, das Glück verschönte unsere abgehärmten Züge, als wir uns im Geiste die Überraschung ausmalten, die unser plötzliches Erscheinen bei unseren Lieben hervorrufen würde.

    1800 Menschen möglichst rasch freizulassen, stellte eine logistische Herausforderung dar. Der ursprüngliche Plan sah eine blockweise Freilassung in Gruppen vor. Die Kleidersäcke mit der Zivilkleidung wurden im Ökonomiehof nach dem Alphabet geordnet ausgelegt, Brotrationen als Wegzehrung vorbereitet. Am späten Vormittag wurden plötzlich hunderte Gefangene gleichzeitig aus den Zellen geholt – Versehen oder Absicht. Chaos brach aus. Es fehlte an notwendigem Ordnungspersonal, da ein Teil der Justizwachebeamten ebenso wie der Anstaltsdirektor bereits ihre Mittagspause angetreten hatten. Überdies gab es unter dem Aufsichtspersonal eine große Gruppe fanatischer Nationalsozialisten, die die generelle Freilassung auf das Schärfste verurteilten. Statt für Ordnung zu sorgen, sabotierten sie die Aktion. Verwaltungsinspektor Johann Lang betraute daher „vernünftige“ Häftlinge mit der Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung, um so die eskalierende Lage wieder in den Griff zu bekommen. Lang ließ an die provisorischen Ordnungskräfte Gewehre und Munition ausgeben. Einige Justizbeamte wurden entwaffnet. Zwei Vollzugsbedienstete aus dem Lager der NS-Sympathisanten verständigten die Kreisleitung der NSDAP und berichteten von einer Häftlingsrevolte in Stein. Eine SS-Patrouille traf ein.

    Gedenkstein für die griechischen Opfer, 1946, Steiner Landstrasse
    Gedenkstein für die griechischen Opfer, 1946, Steiner Landstrasse © Elisabeth Vavra

    Ein Betroffener berichtete über die Ereignisse in der Zeitung Neues Österreich (Ausgabe 2. Mai 1945): Das Ausgangstor hatte sich endlich geöffnet, doch seinen Rahmen füllte nicht das Blau des unendlichen Himmels, sondern das verhaßte Grau von SS-Uniformen.
    Für einen Augenblick herrschte Totenstille. Kalkweiß starrten die Gesichter der so brutal Enttäuschten, wie Masken aus Wachs, aus dem Halbdunkel. Das tädliche Schweigen dauerte nur wenige Sekunden, uns schien es eine Ewigkeit. Ich spürte den Schweiß aus den Poren brechen, die Kleider klebten mir am Leibe. Und mit einem Schlag begannen alle Häftlinge schauerlich zu brüllen. Wir fluteten in den Hof zurück, viele liefen die Stiegen hinauf. Aus der Strafanstalt schien im Handumdrehen ein Tollhaus geworden zu sein. Instinktiv suchte jeder irgendwo in einem Winkel Schutz.
    Über den ganzen Tumult stieg, alles übertönend, die wutgeladene preußische Kommandostimme des Anführers der SS-Leute. Gleich darauf folgte das ohrenbetäubende Krachen von explodierenden Handgranaten und das unaufhörliche Knattern der Maschinenpistolen. Hunderte wälzten sich im Hofe in ihrem Blute, hingen über das Geländer der Gänge und rollten als lebloses Bündel über die Stiegen. Ich hatte einen Schlag auf den Kopf erhalten und war in einen zufällig nahen Keller getaumelt. Von dort konnte ich das grauenvolle Massaker beobachten. Immer noch zerfleischten Handgranaten Menschen, immer noch peitschten die Schüsse der Maschinenpistolen, der Tod raste.

    Nach der SS-Patrouille waren gegen 13:30 Uhr alarmierte Angehörige des Volkssturms, der Wehrmacht und der SS eingetroffen. Sie drängten die Häftlinge zurück in das Zuchthaus. Als diese das Tor zum Ökonomiehof verschlossen, warf der Justizwachebeamte Johann Pomassl aus einer im ersten Stock gelegenen Beamtenwohnung eine Handgranate in den Ökonomiehof, die erste Todesopfer forderte. Die Häftlinge zogen sich darauf zurück, Wehrmacht und SS konnten vordringen. Wahllos schossen sie mit Maschinenpistolen in die Menge und verfolgten die in Panik flüchtenden Gefangenen.  

    Aus allen Schlupfwinkeln wurden sie [die Häftlinge] hervorgezerrt und sofort niedergemacht, oder zu Gruppen [...] rückwärts in den sogenannten Wäschereihof gebracht und dort niedergemäht. Inzwischen wurden Häftlinge, die sich schon in Freiheit und auf dem Heimweg befunden hatten, die aber aufgegriffen worden waren, in die Strafanstalt zurückgebracht und im Ökonomiehof zu Gruppen von 30 bis 40 Mann zusammengestellt, [...] nach rückwärts in den Wäschereihof getrieben und gleichfalls niedergemacht. Andere SS-Männer ließen sich Zellen aufsperren und holten noch darin befindliche Häftlinge heraus, sobald sie aus dem Überbelag der Zellen den Eindruck gewannen, daß sich die Häftlinge aus dem Hof hieher geflüchtet hatten, führten sie gleichfalls in den Hof und schossen sie nieder. Ja selbst aus dem Anstaltsspital wurden alle Häftlinge erschossen, die über die vorhandene Bettenanzahl hinaus darin vorgefunden wurden. [...] Aus: Urteil des LG Wien als Volksgericht gegen Leo Pilz u. a., 30. August 1946
    (zitiert nach www.doew.at/erinnern/fotos-und-dokumente/1938-1945/april-1945-massaker-im-zuchthaus-stein)

    Ehrenmal für die polnischen Opfer, 2015, Friedhof Stein
    Ehrenmal für die polnischen Opfer, 2015, Friedhof Stein © Elisabeth Vavra

    Ohne Gerichtsverfahren wurden der Anstaltsleiter Franz Kodré, der Verwaltungsinspektor Johann Lang und die Justizwachebeamten Johann Bölz und Heinrich Lassky auf Anordnung des Gauleiters Hugo Jury hingerichtet. Die Leichen der Häftlinge wurden in zwei Massengräber auf dem Anstaltsgelände verscharrt. Da deren Kapazität nicht ausreichte, warf man die restlichen in die nahe Donau. 1074 Insassen hatten das Massaker überlebt, das ergab eine Zählung am folgenden Tag. Am 7. und 8. April wurden an die 200 Gefangene gemäß den Richtlinien vom Februar 1945 regulär entlassen. Der Rest wurde mit Schleppkähnen in bayerische Strafanstalten gebracht mit Ausnahme von 50 kranken bzw. verwundeten Sträflingen, die im Anstaltsspital verblieben.

    Noch am 6. April setzte im Stadtgebiet von Krems und in den umliegenden Regionen die Verfolgung der bereits entlassenen Häftlinge ein. Einheiten der Wehrmacht, der SS, der lokalen Gendarmerieposten und Angehörige des Volkssturms durchkämmten das Gebiet. Viele der vormittags Entlassenen trugen noch Häftlingskleidung. Ohne Kenntnis der Ereignisse in Stein wurden sie zu einer leichten Beute der Verfolger. Bei den oft unkontrollierten Schießereien kam es auch zu Opfern unter Unbeteiligten, so erschossen SS-Angehörige einen Landwirt, der mit Arbeiten im Weinberg beschäftigt war. In der Kremser Kaserne wurden an die 35 aufgegriffene Häftlinge hingerichtet.

    Bildstock in Panholz, 1995
    Bildstock in Panholz, 1995 © Elisabeth Vavra

    Die meisten der entlassenen Häftlinge dürften sich Richtung Wien abgesetzt haben. Wer nach St. Pölten oder Richtung Tulln wollte, musste die Donaubrücke passieren. Einige von ihnen wurden in Mautern aufgegriffen und nach ihrer Rückführung im Zuchthaus Stein erschossen. Andere fanden noch in Mautern den Tod. Der weitere Weg über den Göttweiger Berg war durch Straßensperren an mehreren Stellen abgesichert. Die Kontrollpunkte dienten der Überwachung der meist aus Wien kommenden Flüchtlinge. Im Gebiet um Furth, Palt und Panholz liefen ahnungslose Häftlinge sog. Greifkommandos, gebildet aus Angehörigen der SS, des Volkssturms, der örtlichen Gendarmerie und Schülern der in Stift Göttweig untergebrachten NAPOLA (Nationalpolitische Lehranstalt), in die Arme. Entweder wurden sie sofort erschossen oder auf das Ziegeleigelände in Panholz getrieben. Bis zu 29 aufgegriffene Häftlinge fanden hier den Tod. Nicht besser entging es 19 aus der Außenstelle Hörfarth entlassenen Sträflingen. Sie wurden vom Volkssturm aufgegriffen, in die Außenstelle zurückgebracht und dort von Angehörigen der Waffen-SS erschossen

      Manche der am Vormittag des 6. Aprils entlassenen Häftlinge wollten über die alte Reichsstraße nördlich der Donau, entlang der Bahnlinie nach Wien gelangen. Gegen Mittag kam eine erste Gruppe nach Hadersdorf  am Kamp und begegneten dort dem Organisationsleiter der NSDAP-Ortsgruppe Hadersdorf Josef Sumetsberger. Dieser verständigte die im Ort stationierte Waffen-SS-Einheit 61, die die Festnahme der Freigelassenen befahl. Am Nachmittag traf in Hadersdorf der Befehl des NSDAP-Kreisleiters Anton Wilthum ein, alle auf freien Fuß befindlichen Häftlinge gefangen zu setzen. Angehörige des Volkssturms durchkämmten die Region. So wurden etwa zehn Häftlinge in Engabrunn aufgegriffen und nach Hadersdorf am Kamp gebracht. Bis zum Abend befanden sich dort an die 45 Personen unter Bewachung des Volkssturms. In den Mittagsstunden des 7. Aprils erhielt die NSDAP-Ortsgruppenleitung für diese den Erschießungsbefehl. Inzwischen war durch weitere Verhaftungen die Zahl inzwischen auf über sechzig angewachsen. Die Gefangenen wurden der SS übergeben und durch den Ort zum Friedhof getrieben. Dort, an der Friedhofsmauer, sollte die Erschießung stattfinden. Vorher mussten die Gefangenen ihr eigenes Massengrab ausheben. Einundsechzig Menschen verloren im Kugelhagel eines Maschinengewehrs ihr Leben. Vier Häftlinge, die reguläre Entlassungspapiere hatten, waren zuvor freigelassen worden. Ebenso entkam der politische Häftling Franz Fuchs dem Massaker, da er sich als Wirtschaftskrimineller ausgab. Er wurde zurück nach Stein gebracht.

      Gedenkstätte im Friedhof zu Hadersdorf am Kamp, 2009 und 2017
      Gedenkstätte im Friedhof zu Hadersdorf am Kamp, 2009 und 2017 © Elisabeth Vavra

      Die Erschießungen vom 6. April sollten nicht die letzten im Zuchthaus Stein sein. Am 9. April kam aus Wien eine Gruppe von 51 Häftlingen – 44 zum Tode Verurteilte und sieben Schwerverbrecher, auf die die Richtlinien für eine vorzeitige Freilassung nicht zutrafen. Die Todesurteile hatte man noch nicht vollstreckt, da die Verurteilten Gnadengesuche eingereicht hatten. Die Gruppe musste die Strecke von Wien nach Stein zu Fuß zurücklegen, da es keine Bahnverbindung mehr gab. Am 15. April, dem Tag der Einnahme Wiens durch die Rote Armee, wurden die 44 politischen Häftlinge im Gefängnishof durch Genickschuss getötet. Unter ihnen waren Angehörige der polnischen Nachrichtenorganisation „Stragan“, drei Widerstandskämpfer aus Krems sowie Aktivisten der „Antifaschistischen Freiheitsbewegung Österreichs“. Zu letzteren gehörten drei katholische Priester: der Provinzial der Franziskaner Angelus Steinwender, der Franziskaner-Guardian von Eisenstadt Kapistran Pieller sowie der Direktor der Sankt-Josef-Bücher-Bruderschaft in Klagenfurt Dr. Anton Granig, der Gründer der Widerstandsgruppe.

      Nachdem das „Zuchthaus Stein“ als „Männerstrafanstalt Stein“ im September 1945 wieder seinen Betrieb aufgenommen hatte, erstattete der provisorische Leiter Josef Karner als eine seiner ersten Amtshandlungen Anzeige gegen sechs Justizbeamte, die am Massaker vom 6. April beteiligt waren, und gegen SS-Obersturmführer Franz Kleedorfer und gegen den Leiter der Gestapo-Außenstelle Stein Karl Macher wegen der ungerechtfertigten Erschießungen vom 15. April. Den Haupträdelsführern machte das Volksgericht ab 5. August 1946 den Prozess. Fünfzehn Personen waren angeklagt: der Kreisstabsführer Volkssturm und SA-Standartenführer Leopold Pilz, zwei Mitglieder des Volkssturms und zwölf Justizwachebeamte. Gauleiter Hugo Jury und NSDAP-Kreisleiter Anton Wilthum hatten Selbstmord begangen, Jury am am 8. Mai 1945, Wilthum am 11. Jänner 1946. Im Urteil vom 30. August 1946 wurden zehn Angeklagte des vielfachen gemeinen Mordes bzw. der Mitschuld am gemeinen Mord schuldig gesprochen. Acht der Beschuldigten wurden überdies wegen Illegalität bestraft. Über Pilz und vier Justizwachebeamte wurde die Todesstrafe verhängt. Fünf Justizwachebeamten wurden zu lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt – drei von ihnen wurden bereits im Mai 1953 bedingt entlassen, die anderen beiden zu einem späteren Zeitpunkt. Fünf Angeklagte wurden freigesprochen. Weitere Prozesse im Zusammenhang mit dem Stein-Komplex folgten; der letzte fand im Oktober 1955 statt.

      Bereits am 9. Juni 1945 ging eine Anzeige wegen der Häftlingsmorde in Hadersdorf am Kamp ein. Hauptangeklagte in dem ab 28. März 1947 stattfindenden Prozess waren der NSDAP-Ortsgruppenleiter Richard Kuen und der NSDAP-Organisationsleiter Josef Sumetsberger. Erweitert wurde der Beschuldigtenkreis um Kreisstabsamtsleiter Edmund Huber, der in einem Internierungslager bei Salzburg aufgegriffen wurde, und um Gaustabsamtsleiter Otto Edmund Ifland, der untergetaucht war und für das Gericht nicht greifbar war. Kuen wurde zu zwanzig Jahre schwerer Kerker verurteilt, Huber zu fünfzehn Jahren und Sumetsberger zu zehn Jahren. Ifland war in den Nachkriegsjahren in Deutschland als Journalist tätig und wurde 1959 Chefredakteur des „Simplicissimus“. 1960 wurde gegen ihn ein Ermittlungsverfahren – auch wegen Kriegsverbrechen im Zusammenhang mit dem Südostwallbau – eingeleitet, das im Juni 1964 eingestellt wurde, da die notwendigen Aktenunterlagen in Österreich nicht mehr auffindbar waren.  

      Als man 1950 die Leichen aus den Sammelgräbern in Stein exhumierte, stieß man auf 248 Opfer. Aufgrund der neuesten Forschungsergebnisse kann man von einer weit höheren Zahl ausgehen. Zumindest 377 Insassen des Zuchthauses Stein und zwanzig Häftlinge der Haftanstalt Krems fielen dem Massaker zum Opfer. Über ca. 100 weitere Gefangene schweigen die Quellen. Die Opferzahl wird daher heute mit bis zu 500 angesetzt.

      Autorin: Prof. Dr. Elisabeth Vavra

      Verwendete und weiterführende Literatur:
      Herbert Exenberger, Vergessene Opfer des NS-Regimes. Gedächtnisorte ohne Erinnerung, in: Heinz Arnberger – Claudia Kuretsidis-Haider (Hgg.), Gedenken und Mahnen in Niederösterreich, 2. Aufl., Wien 2011, S. 149–159 (zu den Opfern des 15. April 1945).
      Konstantin Ferihumer, Der Stein-Komplex. Zur Aufarbeitung von Kriegsendphaseverbrechen des Zweiten Weltkriegs im Raum Stein a. d. Donau, Masterarbeit Universität Wien 2012.
      Ders. – Winfried R. Garscha, Der „Stein-Komplex. Nationalsozialistische Endphaseverbrechen im Raum Krems und ihre gerichtliche Aufarbeitung, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hrsg.), Fanatiker, Pflichterfüller, Widerständige (Jahrbuch 2016), S. 51–82.
      Udo Eduard Fischer, Erinnerungen 1914–1947. Beiträge zur Geschichte der Pfarre Paudorf-Göttweig, Paudorf 1995.
      Alexander Horacek – Katharina Moser, Zur Erschießung von 61 Menschen in Hadersdorf am Kamp am 7. April 1945, Seminararbeit zum Forschungsseminar aus österreichischer Geschichte: „Nationalsozialistische Massenverbrechen zu Kriegsende 1945 in Österreich“, Wien 1994.
      Gerhard Jagschitz – Wolfgang Neugebauer (Hrsg.), Stein, 6. April 1945. Das Urteil des Volksgerichts Wien (August 1946) gegen die Verantwortlichen des Massakers im Zuchthaus Stein, Wien 1995.
      Karl Reder, Tod an der Schwelle zur Freiheit. Das Zuchthaus Stein an der Donau während der Zeit des Nationalsozialismus und die Ermordung von Häftlingen im April 1945, Graz 2024.
      Robert Streibel, April in Stein, St. Pölten-Salzburg-Wien 2015.

      Links:
      www.kremser-hasenjagd.at
      www.gedenkstaette-hadersdorf.at
      www.doew.at/erinnern/fotos-und-dokumente/1938-1945/april-1945-massaker-im-zuchthaus-stein

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