Erinnern für die Zukunft: Schicksalstage 1945 im Spiegel der Presse
Bereits wenige Tage nach der Befreiung Wiens durch die Sowjetarmee erschienen trotz des Rohstoffmangels die ersten Zeitungen. Ihre Herausgeberschaft lag in den Händen der Parteien und der Besatzungsmächte.28. April 1945 – Proklamation der Republik Österreich
In der Nacht auf den 23. April 1945 drehten sich die Räder der Druckmaschinen in den Hallen der Druckerei Waldheim-Eberle, um zum ersten Mal wieder ein Produkt der „freien“ Presse zu produzieren: Vier Seiten umfasste die erste Ausgabe der neugegründeten Zeitung „Neues Österreich. Organ der demokratischen Einigung“. Unter den Herausgebern fanden sich als Vertreter der drei Parteien Leopold Figl für die ÖVP, Paul Speiser für die SPÖ und Ernst Fischer für die KPÖ, Prof. Dr. Leopold Arzt als Vertreter der Wissenschaft, Ing. Ernst Czeija als Vertreter der Wirtschaft, Paul Hörbiger als Vertreter der Künstler und Msgr. Jakob Fried als Vertreter der Kirche. Chefredakteur war Ernst Fischer (KPÖ), seine Stellvertreter Paul Deutsch (SPÖ) und Leopold Husinsky (ÖVP). Die Titelseite nahm ein von den Herausgebern und Redakteuren unterfertigter Aufruf zur Zusammenarbeit und zum Wiederaufbau ein:
Österreicher! Zum erstenmal seit sieben Jahren dürft ihr nun wieder in aller Öffentlichkeit mit diesem uns allen so teuren Namen angesprochen werden. Die von Millionen Menschen unseres Vaterlandes so lange und so heiß ersehnte Stunde der Befreiung von der nazistischen Zwangsherrschaft ist gekommen. […] Denn jetzt geht es darum, aus dem unermeßlichen Leid und dem namenlosen Unglück, das der Nazismus über unser österreichisches Volk und Land gebracht hat, den Weg in eine bessere Zukunft zu beschreiten. Das ist aber nur möglich, wenn alle heimattreuen und freiheitliebenden Österreicher einträchtig zusammenstehen und mit vereinten Kräften an den Wiederaufbau herangehen.
Schon fünf Ausgaben später nahm die erste Seite dieser Zeitung die Proklamation des wiedererstandenen Staates Österreichs ein. Ein Kernstück der Präambel bildete ein Zitat aus der Deklaration der Krimkonferenz bzw. der Moskauer Konferenz vom Oktober 1943, mit der die Alliierten das Narrativ der Annexion Österreichs als Akt der Aggression unterstützten – nicht aus Überzeugung, sondern um die Österreicher:innen zum Widerstand gegen das Hitlerregime aufzurufen – und ein „neues“ Österreich ankündigten:
Die Regierungen Großbritanniens, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten von Amerika kamen überein, daß Österreich, das erste freie Land, das der Hilerschen Aggression zum Opfer gefallen ist, von der deutschen Herrschaft befreit werden muß. Sie betrachten den Anschluß, der Österreich am 15. März 1938 von Deutschland aufgezwungen worden ist, als null und nichtig. Sie geben ihren Wunsch zum Ausdruck, ein freies und wiederhergestelltes Österreich zu sehen und dadurch dem österreichischen Volk selbst, ebenso wie anderen benachbarten Staaten, vor denen ähnliche Probleme stehen werden, die Möglichkeit zu geben, diejenige politische und wirtschaftliche Sicherheit zu finden, die die einzige Grundlage eines dauerhaften Friedens ist.
Im Anschluss an die Präambel folgen die fünf Artikel der Unabhängigkeitserklärung, die von den Vorsitzenden der politischen Parteien – Karl Renner und Adolf Schärf für die SPÖ, Leopold Kunschak für die ÖVP und Johann Koplenig für die KPÖ – unterzeichnet wurden. Gleichzeitig mit der Proklamation wurden die Mitglieder der Provisorischen Regierung vorgestellt, die mit der Aufgabe betraut wurden, die selbständige und unabhängige Republik Österreich auf den Trümmern des Hitlerregimes wieder aufzurichten: Das Amt des Staatskanzlers (heute Bundeskanzler) übte wie in der Gründungsphase der Ersten Republik Karl Renner aus; ihm zur Seite standen drei Staatssekretäre (heute Vizekanzler). Staatskanzler und Staatssekretäre bildeten die Staatskanzlei (heute Bundeskanzleramt). Daneben wurden zunächst acht Staatsämter (heute Ministerien) eingerichtet: für Inneres, für Volksaufklärung, Unterricht, Erziehung und Kultusangelegenheiten, für Justiz, für Finanzen, für Ackerbau und Forstwirtschaft, für Industrie, Gewerbe, Handel und Verkehr, für Volksernährung sowie für soziale Verwaltung. Die Plenarsitzungen der Regierung – der Kabinettsrat – erfüllten bis zur Konstituierung des neuen Nationalrates im Dezember 1945 gleichzeitig verwaltende und gesetzgebende Funktionen.
Die Wirkmächtigkeit dieser Regierung beschränkte sich allerdings in den ersten Monaten auf die von der Sowjetarmee besetzte Zone. Das änderte sich erst mit der von Renner mit Zustimmung des Alliierten Rates einberufenen Länderkonferenz, die vom 24. bis 26. September 1945 in Wien tagte. Alle Zeitungen berichteten ausführlich über deren Beratungen und Ergebnisse. Der „Wiener Kurier“ titelte: Demokratie und Friede nach innen und außen. Die Länderkonferenz als Auftakt zum neuen Oesterreich. „Das Kleine Volksblatt“, das Organ der Volkspartei, brachte auf der Titelseite seiner Ausgabe vom 27. September 1945 den Volltext der von der Länderkonferenz beschlossenen Resolution:
Die Länderkonferenz ist sich der Verantwortung der österreichischen Regierung auf Grund dieser neuen Situation, die den ersten Schritt zur Wiedererlangung der vollen Selbständigkeit Oesterreichs darstellt, bewußt und hat aus diesem Grunde eine Er weiterung und Umbildung der Staatsregierung vorgenommen, die nunmehr als Gesamt- regierung Oesterreichs die Zivilverwaltung im Bundesgebiet übernimmt. Die Länderkonferenz erwartet die eheste Anerkennung dieser Regierung seitens der alliierten Mächte als Voraussetzung für die Wiederaufnahme des normalen demokratischen politischen Lebens in Oesterreich.
Ferner beschloss die Länderkonferenz die Abhaltung von Neuwahlen in den Nationalrat und in die Landtage. Als Wahltermin wurde der 25. November 1945 in Aussicht genommen. Die Anerkennung der Provisorischen Regierung als Regierung für Gesamtösterreich durch den Alliierten Rat erfolgte erst am 20. Oktober 1945: Die Provisorische österreichische Regierung ist ermächtigt, Gesetze zu erlassen, die auf ganz Österreich Anwendung finden sollen, unter der Voraussetzung, daß sie vorher dem Alliierten Rat zur Zustimmung vorgelegt werden (Österreichische Volksstimme, Nr. 67, 23. Oktober 1945. ANNO/Österreichische Nationalbibliothek).
25. November 1945 – Die ersten freien Wahlen
In der letzten Oktoberwoche begann der Kampf um die Stimmen der Österreicher:innen. Die drei antretenden Parteien hielten Parteitage und Wahlversammlungen ab. Die „Arbeiter-Zeitung“ druckte auf der Titelseite ihrer Ausgabe vom 27. Oktober 1945 die Rede Karl Renners ab, die er auf der Konferenz der Sozialistischen Partei in Wien gehalten hatte. In seiner Definition der Wahlkampfziele zeichnete sich deutlich ein Abrücken von der Kommunistischen Partei ab und – trotz aller Differenzen – eine Annäherung an die Volkspartei: Mit der demokratischen Volkspartei wollen wir zur Wiederaufrichtung Österreichs gute Freundschaft halten. Aber wir werden vorsichtig sein, wir werden darauf achten, wer hinter ihnen steht, wer hinter ihnen vordrängt. – Die Jahre des Ständestaates und des Verbotes der sozialistischen Partei waren nicht vergessen. Am 24. Oktober 1945 hielt die ÖVP ihre erste Wiener Parteikonferenz ab, von der ihr Parteiorgan „Das kleine Volksblatt“ in ihrer Ausgabe vom 25. Oktober mit dem Titel Alle Arbeit nur für die OeVP! berichtete. Landesparteiobmann Alois Weinberger betonte u.a. die Bedeutung der bündischen Idee. In der Folge kamen die Sprecher dieser Bünde zu Wort: Franz Bauer sprach für den Arbeiter- und Angestelltenbund, Josef Kresse für den Wirtschaftsbund, Michael Walla für den Bauernbund. Bundesparteiobmann Leopold Figl nahm in seiner Rede auch auf den Wahltermin Bezug: […] eine alte Bauernregel sagt von diesem Tage: „Die Kathrein stellt ´n Tanz ein!“ Ja, am Kathrini-Tag wollen wir den Tanz einstellen und aus besinnlicher Arbeit und ernster Pflichterfüllung soll ein neues Oesterreich geboren werden, auf daß wir feiern können das Auferstehen des österreichischen Volkes. In der „Österreichischen Volksstimme“ erschien in der Ausgabe vom 23. Oktober ein erster Spendenaufruf für den Wahlfonds: Unterstützt unseren Wahlkampf, damit wir diesen Kampf im Interesse des ganzen Volkes, im Interesse Österreichs siegreich schlagen können! Am 27. Oktober 1945 hielt die KPÖ ihre Parteikonferenz in der Hofburg in Wien ab, an der alle Landesorganisationen teilnahmen. Reden und Diskussionsbeiträge, die in der folgenden Ausgabe die ersten beiden Seiten einnehmen, zeigten deutlich die eingeschlagene Parteilinie: Die KPÖ präsentierte sich als Verteidigerin der Demokratie, suchte die Zusammenarbeit mit der SPÖ und verteufelte die ÖVP. In seinem Schlusswort unterstrich Johann Koplenig die Bedeutung der Sowjetunion für Österreich: Herrscht nicht in der russischen Zone volle demokratische Freiheit für alle Parteien? Die Sowjetunion hat Oesterreich in seiner härtesten Zeit geholfen und ihrer konsequenten Haltung verdankt es die Anerkennung der Regierung. […] Die Sowjetunion war und ist der größte Freund des österreichischen Volkes! (Österreichische Volksstimme, Nr. 72, 28. Oktober 1945)
Und der „Wiener Kurier“ berichtete am 29. Oktober 1945 in der Spalte „Im Spiegel der Zeit“: Vor einigen Wochen noch sahen die Anschlagsäulen und -wände Wiens recht dürftig aus. Die kleinen, schwarzweißen Plakate konnten einander kaum erschreien – so schütter waren sie, und ihr Inhalt ging über die Ankündigung von Brettlvorstellungen, von Peripheriebühnen, über verlaufene Hunde und verflogene Papageien nicht viel hinaus. Seit ein paar Tagen ist es anders. In erfreulicher Fülle und sogar schon ein bißchen bunt drängen sich die Anzeigen an den Wänden und Säulen: es sind die Wahlen, die diese Fülle veranlaßt haben. Werbung! Die drei demokratischen Parteien wenden sich an die Bevölkerung Wiens und bringen ihre Politik in empfehlende Erinnerung. Es geschieht bis jetzt – und das ist jedenfalls erfreulich – in einer Form, die nicht darauf ausgeht, den Konkurrenten zu kränken, und wo sich kleine Meinungsverschiedenheiten geltend machen, zeigt sich das in einer Sprache, die von den Polemiken früherer Wahlzeiten angenehm absticht. Es wäre gut, wenn es so bliebe. (Wiener Kurier, Nr. 55, 29. Oktober 1945)
Am 25. November 1945 war es dann endlich soweit: Um 7 Uhr öffneten die Wahllokale ihre Pforten – und die Österreicher:innen kamen, sie standen Schlange, um ihr demokratisches Recht auszuüben und bestätigten so die in sie gesetzte Hoffnung oder wie der „Wiener Kurier“ in seiner Berichterstattung formulierte: Wurde immer wieder darauf hingewiesen, daß der Wahltag gewissermaßen die politische Reifeprüfung Österreichs darstellen würde, so kann man wohl heute bereits sagen, daß Österreich diese Prüfung mit Glanz bestanden hat (Wiener Kurier, Nr. 78, 26. November 1945). Nicht wahlberechtigt waren die rund 800.000 ehemaligen NDSDAP-Mitglieder. Da auch viele Soldaten noch nicht in die Heimat zurückgekehrt waren, stellten die Frauen die Mehrheit der Wahlberechtigten. Der Wahltag verlief ohne Zwischenfälle. Die Auszählung der Stimmen dauerte mehr als zwei Tage, allerdings zeichnete sich bereits bis Montag eine deutliche Tendenz ab, die das amtliche Endergebnis dann bestätigte: Die ÖVP ging als stimmenstärkste Partei aus der Wahl hervor. Mit einem Stimmenanteil von 49,8% erreichte sie 85 Mandate. Zweitstärkste Partei wurde die SPÖ mit 44,6% und 76 Mandate. Die KPÖ erlitt eine Niederlage: Sie kam nur auf 5,4% der Stimmen und damit auf 4 Mandate. Die nur in Kärnten antretende DPÖ (Demokratische Partei Österreichs) erreichte 0,2%. Die Wahlbeteiligung betrug 93,27%.
Die Reaktionen der Parteien fasste der „Wiener Kurier“ in seiner Ausgabe vom 26. November zusammen: Leopold Figl betonte die Bereitschaft seiner Partei gemeinsam mit den anderen Parteien den Wiederaufbau Österreichs voranzutreiben: Das Mandat für Österreich, das uns gestern geschenkt wurde, verpflichtet uns, in unermüdlicher Arbeit, in hartnäckiger Kampfbereitschaft und in kompromißloser Verteidigung wahren österreichischen Wiederaufbauwillens unser Programm durchzusetzen. […] Wir treten unseren Parteigegnern von gestern und unseren Mitarbeitern in der Konzentration aller Kräfte von morgen vorurteilslos mit dem ehrlichen Willen zur Zusammenarbeit gegenüber (Wiener Kurier, Nr. 78, 26. November 1945). Die Sozialistische Partei machte für das nicht erreichte Ziel einer Mehrheit drei Faktoren verantwortlich: das Übergewicht der Frauen, die dreizehn jungen Jahrgänge, die noch nie gewählt hatten und die Rückwirkung, die die militärische Besetzung mit all ihren Begleiterscheinungen auf die Stimmung der Wähler […] hatte (Arbeiter-Zeitung, Nr. 96, 26. November 1945). Das unerwartet schwache Abschneiden traf die Parteispitzen der KPÖ schwer: Es ist uns nicht gelungen, das Volk aufzurütteln. Aus den Wahlen sind die beiden traditionellen Parteien als Sieger hervorgegangen. […] Aber wir Kommunisten fühlen uns dennoch für Volk und Heimat verantwortlich. […] Kämpfen, arbeiten, nicht beiseitestehen – das ist nun mehr als je die Pflicht jedes Kommunisten. Wir haben eine Schlacht verloren, aber wir stehen erst am Anfang des Kampfes für Österreich. Und diesen Kampf werden wir gewinnen (Österreichische Volksstimme, Nr. 96, 26. November 1945).
19. und 21. Dezember 1945 – Regierung Figl
Laut Memorandum des Alliierten Rates vom 20. Oktober 1945 hatte eine Regierungsbildung bis spätestens 31. Dezember 1945 zu erfolgen – wenig Zeit, um eine Konzentrationsregierung auf die Beine zu stellen. Aber es gelang. Am 9. Dezember 1945 konnte man u.a. im „Neuen Österreich“ lesen: Freitag nachmittag (= 7. Dezember) sind die letzten grundsätzlichen Vereinbarungen des designierten Bundeskanzlers Ing. Figl mit den politischen Parteien durchgeführt worden, wie unmittelbar darauf Hofrat Weber, der Hauptreferent der ÖVP für Presse und Publizistik, im Rundfunk mitteilte. Nach Einholung der Zustimmung des Alliierten Rates in den nächsten Tagen wird die neue Ministerliste der Öffentlichkeit vorgelegt werden (Neues Österreich, Nr. 197, 9. Dezember 1945). Noch besser informiert zeigte sich der „Wiener Kurier“, der bereits in seiner Ausgabe am 10. Dezember 1945 einige Namen der neuen Kabinettsmitglieder veröffentlichte, noch bevor die Bestätigung durch den Alliierten Rat erfolgt war. Am 18. Dezember 1945 fand dann die entscheidende Sitzung des Alliierten Rates statt, der der Zusammensetzung der Regierung Figl seine Zustimmung gab. Der 19. Dezember 1945 war der Tag der feierlichen Eröffnung des Parlaments. Ihr widmete das „Neue Österreich“ die beiden ersten Seiten ihrer Ausgabe vom 20. Dezember 1945: Wieder flattern im lauen, weichen Wind dieses unwahrscheinlich warmen Wintertages die rot-weiß-roten Fahnen von den Fahnenmasten des Parlaments. Autos fahren auf, österreichische und solche der Alliierten. Und Neugierige stehen in den kahlen Alleen der Ringstraße und betrachten das ungewohnte Schauspiel und empfinden, daß sie Augenzeugen eines historischen Ereignisses sind: des Zusammentrittes der ersten frei gewählten Volksvertretung der wiedergewonnenen Republik Österreich (Neues Österreich, Nr. 206, 20. Dezember 1945).
Nach dem Eintreffen des Alliierten Rates zogen die Abgeordneten in den Sitzungssaal ein, ihnen folgten die Mitglieder der Provisorischen Regierung. Der noch amtierende Staatskanzler Karl Renner eröffnete die Sitzung. Dann übernahm das älteste Mitglied, Karl Seitz, den Vorsitz und leitete die nachfolgende Wahl des Präsidenten. Per Akklamation wurde Leopold Kunschak einstimmig zum Präsidenten gewählt. Dann gab Karl Renner als scheidender Staatskanzler seinen Rechenschaftsbericht ab. Er erinnerte an die Befreiung des österreichischen Volkes durch die alliierten Truppen und erneuerte das Bekenntnis zu Österreich: Das totgesagte, das zum Tode verurteilte, das aus der Sprache der Gesetzbücher ausgelöschte Österreich war unzweifelhaft und unzweideutig wiedererstanden: Österreich wird ewig stehen!
Am 20. Dezember 1945 wählte der Nationalrat Karl Renner zum Bundespräsidenten. In der Sitzung am folgenden Tag wurde die Regierung Figl vorgestellt, und Leopold Figl gab die Regierungserklärung ab, abgedruckt in der „Wiener Zeitung“ vom 22. Dezember 1945: Zunächst richtete er seinen Dank an die alliierten Mächte, die Österreich befreit hatten. Gleichzeitig appellierte er an sie, die Demarkationslinien zu öffnen. Seine folgenden Ausführungen beschäftigten sich mit den dringendsten anstehenden Aufgaben der Regierung; dazu gehörten u.a.:
Reorganisation des Sicherheitswesens: Der Sicherheitsapparat muß Diener des Staates und restlos im Dienste der Regierung gegen alle Versuche und Bestrebungen, die demokratische Entwicklung Österreichs zu gefährden, einsatzbereit sein.
Ernährungsfrage: Im Sofortprogramm der Regierung wird ihre vordringliche Aufgabe die Sicherung der Ernährung für diesen Winter sein. Im Bewußtsein meiner Verantwortung für diese Aufgabe muß ich feststellen, daß deren Lösung ohne die tatkräftigste Mithilfe der Alliierten unmöglich ist. […] Neben der Ernährungsfrage ist es vor allem die Beheizungsfrage, die der neuen Regierung die größten Sorgen bereitet.
Sorge für die Arbeiter: Wir wollen wieder einen zufriedenen Arbeiter, der mit seiner Familie glücklich und zufrieden in einer gesunden Wohnung mit einem ausreichenden Lohneinkommen leben kann. Soziale Gerechtigkeit, gerechte Lohnverhältnisse, gesunde Arbeitsbedingungen und die Sicherung eines ruhigen Lebensabends für unsere Altersrentner und Arbeitsinvaliden muß zu den sozialen Kardinalforderungen jeder österreichischen Regierung gehören.
Wiederaufbauplan: Ich kenne die Schwierigkeiten jedes Neuaufbaues, aber ich kenne auch die ungeheure Produktionskraft, die in der österreichischen Arbeitsleistung steckt, und wenn ich darum heute hier bekenne, daß ich tief durchdrungen bin von dem Glauben daran, daß es uns gelingen wird, unsere Wirtschaft hochzubringen, dann berechtigt mich hiezu mein Wissen um den Fortschrittsgeist und den eisernen Arbeitswillen der Bauernschaft und die höchstwertige Qualitätsleistung des österreichischen Handwerkes und Arbeiters.
Aktive Außenpolitik: Dieser österreichische Geist war jahrhundertelang Bollwerk gegen alle Versuche imperialistischer Einseitigkeit in diesem Europa. Er war das ausgleichende Moment in Europa. Unser neues Österreich ist ein kleiner Staat, aber er will dieser großen Tradition, die vor allem eine Kulturtradition war, treu bleiben als Hort des Friedens im Zentrum Europas.
Appell an die Jugend: Namens der neuen Regierung, die sich selbst als Vertreterin der kommenden Generation in diesem Staat fühlt, rufe ich die Jugend zum Neuaufbau Österreichs. Wir wollen das neue, das junge Österreich, wir wollen Euer Österreich bauen. Der Weg ist steil und schwer. Ihr müßt uns als Avantgarde vorausgehen!
Leopold Figl schloss seine Regierungserklärung mit einer Erinnerung an das bevorstehende Weihnachtsfest – Sätze, aus denen 20 Jahre später die nachgesprochene Weihnachtsansprache Leopold Figls wurde:
In wenigen Tagen feiern wir Weihnachten, Weihnachten ist für uns ein Hochfest der Familie. Es wird heuer leider kein Weihnachten sein, so wie wir es gern haben möchten. Auf den Christbäumen, wenn wir welche haben, wird ein schönes Päckchen voll Sorgen hängen. Trotzdem wollen und dürfen wir nicht verzagen, sondern gerade an diesem Weihnachtsabend, wo zum erstenmal wieder die Kerzen in einem neuen, demokratischen Österreich leuchten und alle, die ehrlich mitarbeiten wollen, die gleichen Rechte haben sollen und werden, gerade jetzt in diesen Weihnachtsstunden wollen wir versprechen, daß wir alle zusammen nichts unversucht lassen werden, um bis zu den nächsten Weihnachten wieder so weit zu sein, daß jeder in Österreich ein Stückchen Glück und Zufriedenheit unter dem nächsten Weihnachtsbaum vorfindet.
In der Präsidentenloge saß neben Bundespräsident Karl Renner Josefa Figl, die Mutter Leopold Figls, die, nachdem sie sieben Jahre um das Leben ihres Sohnes, den sie in den Händen der Schergen des Hitlerregimes wußte, gebangt hatte, nun Zeuge seines großen Ehrentages war (Neues Österreich, Nr. 208, 22. Dezember 1945).
In das Gästebuch Leopold Figls trug sie am 21. Dezember ein:
Freitag vor Weihnachten, den 21. Dezember 1945
am Tag der Regierungserklärung
Meinem lieben Poldl
Gottes und der Mutter Segen.
Deine Mutter
Autorin: Prof. Dr. Elisabeth Vavra
Verwendete Quellen und Literatur:
Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert (Österreichische Geschichte 1890–1990), Wien 1994, S. 399–407.
Arbeiter-Zeitung. Zentralorgan der Sozialistischen Partei Österreichs – Ausgaben: 26. November 1945, 27. November und 22. Dezember 1945 (ANNO/Österreichische Nationalbibliothek).
Neues Österreich. Organ der demokratischen Einigung – Ausgaben: 23. April 1945, 28. April 1945, 29. April 1945, 26. November 1945, 9. Dezember 1945, 20. Dezember 1945 und 22. Dezember 1945 (ANNO/Österreichische Nationalbibliothek).
Das kleine Volksblatt – Ausgaben: 27. September 1945, 26. November 1945 und 22. Dezember 1945 (ANNO/Österreichische Nationalbibliothek).
Österreichische Volksstimme. Zentralorgan der Kommunistischen Partei Österreichs – Ausgaben: 26. November 1945 und 22. Dezember 1945 (ANNO/Österreichische Nationalbibliothek).
Die Weltpresse. Herausgegeben vom britischen Weltnachrichtendienst – Ausgaben: 26. November 1945 und 22. Dezember 1945 (ANNO/Österreichische Nationalbibliothek).
Wiener Kurier. Herausgegeben von den amerikanischen Streitkräften für die Wiener Bevölkerung – Ausgaben: 24. September 1945, 26. November 1945, 10. Dezember 1945, 20. Dezember 1945 und 22. Dezember 1945 (ANNO/Österreichische Nationalbibliothek).
Wiener Zeitung – Ausgabe 22. Dezember 1945 (ANNO/Österreichische Nationalbibliothek).